SWR4 Sonntagsgedanken

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Teil 1: Der Morgen als Geschenk

Bei meinem ersten Aufenthalt auf der Insel Sylt  gefiel mir gleich, wie die Einheimischen sich am Morgen begrüßten: „Moin! Moin!" , klang es im Bäckerladen und auf der Straße. Das wirkte auf mich und meine Miturlauber sehr sympathisch, und es dauerte nicht lange, bis wir uns selbst so  begrüßten und jemand von uns sogar eine  „Moin" -Tasse kaufte.

Ein Morgengruß ist etwas Schönes, vorausgesetzt, er ist ehrlich gemeint.  Dann drückt er  aus, dass mir der andere  wohlgesonnen ist  und möchte, dass ich einen möglichst  guten Tag erlebe.
Der Morgen ist tatsächlich eine besondere Tageszeit, weil er jedes Mal  einen  intensiven Wechsel bedeutet.  Zuvor in Nacht und Schlaf versunken, tauchen wir aus dem Dunkel auf, sehen uns und unsere Umgebung im Licht. Träume enden, das Bewusstsein und  die Vernunft übernehmen  wieder die Führung.   

Ein Gebet aus Westafrika begrüßt den Morgen mit Jubel: 

Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel.
Die Nacht ist verflattert und ich freue mich am Licht.
Deine Sonne hat den Tau weggebrannt
vom Gras und von unseren Herzen.(...)

Ein neuer Tag, der glitzert und knistert,
knallt und jubiliert von deiner Liebe.
Jeden Tag machst du. Hallelluja, Herr!

Nicht jeder wird hier mitjubeln können.  Auf viele Menschen  legt sich schon beim Erwachen eine drückende Last:  die Anforderungen des Tages, Existenzsorgen, Konflikte, Schmerzen und Krankheit.

Und doch gilt: Jeder Tag beschert mir aufs Neue eine Spanne Leben, lässt mich atmen, weckt mir die Sinne.  Heute bin ich nicht  mehr derselbe wie gestern und kein Tag gleicht dem anderen. Er lässt sich nicht wiederholen, sondern ist ein nie wiederkehrendes Angebot, ein Geschenk.   

Der Schriftsteller  Otto Betz sagt das so: 

Weißt du, dass das Heute dein Leben ist?
Wenn du das Heute verachtest,
dann verachtest du auch dein Leben.
Lege jeden Augenblick auf die Waagschale,
um herauszufinden, wie kostbar  er ist.,

Jetzt, in diesem Moment, wirst du geboren,
bekommst du Dasein geschenkt
wird dir Lebensatem eingeblasen
jetzt gehen deine Augen auf,
damit sich die ganze Welt dir öffnet
jetzt wirst du angerufen (...)
Jetzt ist die Zeit, auf die es ankommt,
horch gut auf das, was sich jetzt begibt:
Es ist dein Leben!

 M u s i k 

Teil 2: Der Morgen als Gottes Zeit

Einen Sonnenaufgang zu beobachten kann ein großes  Erlebnis sein. Wir  werden Zeugen, wie das Licht wächst, wie Pflanzen und Tiere zu neuem Leben erwachen - und wir mit ihnen. Ohne unser Zutun geschieht das jeden Morgen - ein Vorgang, der mich staunen lässt.  
In den Psalmen der Bibel spielt der Morgen eine wichtige Rolle.
„Wach auf, meine Seele!  Wacht auf, Harfe und Saitenspiel!  Ich will das Morgenrot wecken," ruft  ein Beter aus - voller Freude, den Tag mit  Singen und Spielen für seinen Gott zu beginnen (Psalm 57, 9).

Häufiger scheint mir die entgegengesetzte Situation zu sein:  „Ich liege wach und ich klage (...) Meine Tage schwinden dahin wie Schatten" (Psalm 102,8.12), „ (...) mir erstarrt das Herz in der Brust". (Psalm 143,4). Letzte Hoffnung des Beters ist Gott: „Schon beim Morgengrauen komme ich und flehe; ich warte auf dein Wort" (Psalm 119, 147). „Lass mich deine Huld erfahren am frühen Morgen, denn ich vertraue auf dich" (Psalm 143, 6-8).
Solche Gebetsrufe, meine ich, veralten nicht: Wir leben zwischen Glück und Schmerz, zwischen Leben und Tod. Wir haben unser Dasein niemals total in der Hand.

„In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand Jesus auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten" , berichtet  der Evangelist  Markus (Markus 1,35). Dass  sich Jesus nachts  oder am frühen Morgen  in die Stille zurückzogen hat, erwähnt das Neue Testament öfters. Offenbar hat er diese Stunden gesucht und gebraucht, um  im Gespräch mit Gott allein zu sein.

Alle Religionen der Welt  wissen um die Bedeutung der  Morgenstunden. Noch  schweigt der Lärm des Tages, noch sind Kopf und Herz unbesetzt  und  die inneren Antennen auf Empfang gestellt. Deshalb gehört zum Tagesablauf in Klöstern ganz selbstverständlich das Gebet in der Frühe.    

Warum die Morgenzeit  so kostbar ist, bringt ein Wort des Propheten Jesaja auf den Punkt:  „Jeden Morgen weckt  Gott, der Herr mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger" (Jesaja 50, 4).
Was dieses innere Hören bedeuten kann,  habe ich bei einer blinden  Frau erlebt. Ihr ganzes Wesen ist Offenheit und Bereitschaft.

Nicht nur ihre Ohren, auch ihre Seele lauscht  aufmerksam auf alles, was auf sie zukommt: Geräusche  und  Stimmen,  Ereignisse und Menschen. Jeden Morgen  ist sie aufs Neue bereit, Gutes und Schönes wahrzunehmen und sich daran zu freuen, einerlei  ob es „nur" ein kühlender Windhauch ist, eine sympathische Stimme oder ein Meisterkonzert. Auch  die schweren  Lebensphasen nimmt sie bewusst an, vor allem die schreckensvollen Etappen ihrer Erblindung und die ständige Finsternis, die sie seit über 30 Jahren gefangen hält. „Das ist jetzt so ", sagt sie dazu und versteht  alles Schwere als eine  Aufgabe, die sie zu bewältigen hat, oft genug durch bloßes bereitwilliges Aushalten.

Die Kraft dazu kommt aus tiefen Wurzeln: Sie glaubt an einen guten und liebenden Gott, so wie ihn Jesus verkündet und vorgelebt hat. Von Ihm lesen ihre Finger häufig  in ihrer  Blindenschrift - Bibel - möglichst an jedem Morgen!  

(Lit.: Otto Betz, Vom Umgang mit der Zeit. Kevelaer 2004. S. 7 und 57 f

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15410
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