Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Freiheit in Sachen Religion hat zwei Seiten. Die eine ist, dass jeder auf seine eigene Weise glauben kann und darf. Die andere: Dass ich dann auch tolerieren muss, dass der andere anders glaubt. Das zeigt besonders gut die Geschichte vom Gaukler. Die geht so:
Es war einmal ein Gaukler. Der zog von Ort zu Ort, tanzend und springend.
Des unsteten Lebens müde, zog er sich eines Tages in ein Kloster zurück. Doch das Leben der Mönche blieb ihm fremd. Er wusste kein Gebet zu sprechen und Psalmen konnte er auch nicht singen. Er kam sich ziemlich fehl am Platze vor.
Eines Tages, als die Glocke zum Gebt rief, flüchtete sich der Gaukler in eine abgelegene Kapelle. Kann ich nicht beten wie die Mönche, so will ich doch tun, was ich kann, sagte er und er fing an und tanzte mit Leib und Seele, um Gott zu loben.
Ein Mönch war ihm heimlich gefolgt und hatte den Abt geholt. Dieser sah ihm zu und staunte. Als der Gaukler ihn entdeckte, schämte er sich für sein Tanzen und Springen. Der Abt aber verneigte sich und sagte:
Mit deinem Tanzen hast du Gott mit Leib und Seele geehrt.
Diese Geschichte hat für mich zwei Seiten. Sie zeigt mir zwei Figuren und je nachdem, wen ich sehe, sagt sie etwas anderes.
Lange Jahre habe ich zuerst den Gaukler gesehen. Ich habe mich in seiner Rolle erkannt. Ich habe Gott auf meinem eigenen Weg gesucht, wollte ihn erfahren und mit ihm reden. Oft wusste ich mit den eingefahrenen Formen nicht viel anzufangen.
Diese Geschichte war für mich eine Einladung: Du darfst Gott auf deine persönliche Weise suchen, in deiner ganz eigenen Art zu ihm beten, ihn loben und mit ihm leben.
Heute fällt mein Blick zuerst auf den Abt. Ich bewundere seine Weisheit. Was der Gaukler tut, entspricht nicht seiner Art zu glauben und zu beten. Aber der Abt verurteilt ihn nicht und er wertet nicht ab. Mit gefällt, wie der Abt den Gaukler bestärkt, seinen eigenen Weg zu suchen und zu finden. Er hat ein weites Herz und lässt auch das gelten, was ihm selbst fernliegt, vielleicht sogar fremd ist. Er stellt für den Gaukler keine Regeln auf, wie man beten darf und wie nicht, was zu Gott passt und was nicht. Der Abt spürt: da ist einer ganz bei sich und gibt sich Gott hin in seinem Tanzen - mehr braucht es nicht zum Gebet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15397
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