Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Michael geht in die Klasse in der ich Lehrerin bin. Seit diesem Schuljahr. Zum ersten mal lerne ich ein Kind kennen mit einer so genannten Authismus-Spektrum-Störung, einer seelischen Behinderung. Bis dahin hatte ich keine Ahnung was sich hinter dieser Diagnose verbirgt und was sie für den Jungen bedeutet. Inzwischen sind alle Beteiligten um viele Erfahrungen reicher. Michael ist ein sehr empfindsames Kind mit vielen Begabungen. Manchmal sind die anderen Kinder völlig fasziniert weil sie niemals selbst zu dem in der Lage wären was Michael kann. Manchmal erschrecken alle, weil Michael über etwas tief gekränkt ist, womit keiner gerechnet hat. Dann wehrt er sich und wir müssen erst einmal herausfinden warum eigentlich. Aber das dauert und dazu habe ich neben all den anderen Kindern nicht immer die Zeit gehabt die dafür nötig gewesen wäre. Fast ein halbes Schuljahr hat Michael oft ausgehalten, dass niemand für ihn da ist, wie er das eigentlich braucht. Wie sehr uns das alle belastet hat merken wir jetzt seitdem Michael so betreut wird, wie ihm das mit seiner Diagnose zusteht. Eine junge Frau macht ihr freiwilliges soziales Jahr als Schulbegleiterin und ist seit März einfach für ihn da. Um mit ihm zu arbeiten und vor allem um all die Dinge zu bereden, die ihm so zu Herzen gehen. Er nimmt es gerne an, begleitet zu werden und es ist beeindruckend zu erleben, wie motiviert er sich an Dinge wagt, die er sonst nur vermieden hat. Das hatten wir natürlich gehofft. Erstaunlich ist jedoch, wie der Rest der Klasse reagiert. Alle Kinder sind erleichtert, sie sind keineswegs neidisch sondern freuen sich mit ihm. Die Hilflosigkeit, Michael in seiner besonderen Situation nicht gerecht zu werden, haben offensichtlich auch die Kinder gespürt, nicht nur wir Pädagogen. Jetzt fällt es ihnen noch viel leichter ihm zu zeigen, dass sie ihn mögen und dass er zu uns gehört wie alle anderen Kinder auch. Zweifellos haben sie von und mit ihm viel gelernt.

Menschen mit Behinderung die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen zu garantieren ist ein Menschenrecht. Das hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2006 in einer UN-Konvention so formuliert. Dieses Menschenrecht in den Alltag umzusetzen ist nun unsere Aufgabe. Wie das Beispiel zeigt, macht das auch in Schulen Sinn. Es zeigt aber auch, dass zusätzliche Kräfte gebraucht werden. Dann kann der gemeinsame Alltag für Menschen mit und ohne Behinderung gelingen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15165
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