Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Es ist mehr als 13 Jahre her. Wenn ich daran denke ist es als wäre es gestern gewesen. Ich sehe mich noch am Telefon sitzen. Bis heute kann ich den Raum, in dem ich gesessen bin ganz genau beschreiben.
Das kann nicht wahr sein. Das ist die Grenze. Mein Bruder hat mich angerufen um mir zu sagen, dass mein Schwager im Sterben liegt. Innerhalb von wenigen Tagen war er tot. Eine Gehirnblutung. Meine Schwester war im 4. Monat schwanger. Der Mann ihre große Liebe. Sie waren eineinhalb Jahre verheiratet. Bis dahin habe ich als Theologin und gläubige Katholikin auch in schwierigen Situationen immer versucht, irgendeine Erklärung zu finden dafür warum das Leben so ist wie es ist. Das war die Grenze. Ich habe endgültig begriffen, dass es manchmal einfach nichts mehr zu erklären gibt, auch nichts zu verstehen. Es gibt zu viel, das unerträglich schwer ist, unbegreiflich und scheinbar sinnlos. Natürlich hat sich auch meine Schwester gefragt, warum das jetzt, warum er, warum gerade ich? Ich weiß noch, wie sie gesagt hat, dass sie sich diese Frage verbietet. Weil sie verrückt wird, weil es keine Antwort gibt. 

Seitdem habe ich gelernt, auszuhalten wenn ich ohnmächtig bin. Leicht fällt mir das noch immer nicht. Was mir wirklich hilft und mich beruhigt ist, glauben zu können, dass Gott solidarisch ist. Die Lebensgeschichte Jesu, sein Tod und seine Auferstehung erzählen von nichts anderem. Dass Gott sich ganz und gar mit uns Menschen verbindet indem er selbst Mensch wird. Dass er alles mit uns teilt, was wir erleben. Geboren werden, wachsen, das Leben suchen, lieben und sterben. Einsam sein, verzweifelt und ohnmächtig auch. Aber dann wieder aufstehen und weitergehen. Das alles ist menschlich und göttlich.

Mich tröstet das. Vor allem deshalb weil ich so oft erlebt habe, dass es genau so ist. Meine Schwester ist an ihrem Schicksal nicht zerbrochen. Einfach waren all diese Jahre für sie nicht. Aber sie zeigen, wie stark das Leben sein kann. 6 Monate nach dem Tod ihres Mannes hat meine Schwester eine Tochter geboren. Für ihre Kinder ist sie eine achtsame und verantwortungsvolle Mutter. Sie ist eine sehr lebendige und schöne Frau, die heute ihren 53. Geburtstag feiert. Mit Freude und dankbar dafür, wie viel Kraft, Energie und Weisheit ihr zugewachsen sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15164
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