Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein".   Diesen Spruch hat man sich früher ins Poesiealbum geschrieben. Ich muss zugeben, ich finde ihn schrecklich. Mein Verdacht ist - da sollten aus aufgeweckten Mädchen brave, angepasste Fräuleins gemacht werden. Bescheidenheit - das war früher ja vor allem für Mädchen ein Wert, der großgeschrieben wurde.  Aber in Wirklichkeit hat er die Mädchen damals klein gemacht hat.
Die Mädchen von heute sehen das lockerer. „Mutter, ich weiß gar nicht, warum dich das so aufregt. Da ist doch ein Funken Wahrheit drin", sagt meine Tochter. „ Wenn jemand den Hals nicht vollkriegen kann und nie bescheiden ist und immer nur an sich selber denkt, das ist doch ätzend!", sagt sie.
Da muss ich ihr Recht geben. So jemand ist bestimmt kein treuer Freund, auch keine gute Arbeitskollegin und bestimmt kein angenehmer Vorgesetzter. Weil er eben nur den eigenen Vorteil sieht. Und weil es ihm egal ist, wie es den anderen geht.
Vielleicht gehört die Bescheidenheit ja deshalb zu den christlichen Tugenden. Weil es für alle gut ist, nicht immer nur an sich selbst zu denken, sondern auch zu sehen, was andere brauchen. Es tut einer Gemeinschaft einfach nicht gut, wenn einer sich für besser hält als der andere. Jesus hat das einmal sehr deutlich formuliert. Als die Jünger darüber diskutiert haben, wenn denn wohl der Höchste unter Ihnen sei, hat Jesus gesagt: „Wenn jemand der Erste sein will, der soll der Letzte sein von allen" (Mk 9,35). Das ist Bescheidenheit.
Ich finde, wer so bescheiden sein kann, der ist keine kleine graue Maus. So jemand ist eigentlich eine starke Persönlichkeit und das bewundere ich.  Und so einem Menschen würde ich dann ins Poesiealbum schreiben: „Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam bescheiden und rein, und auch wie die stolze Rose, die gern mal bewundert darf sein."

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