Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Manchmal fehlen mir zum Beten die Worte, sogar als Pfarrer. Das kann ganz verschiedene Gründe haben. Manchmal bin ich zu müde, manchmal zu aufgeregt und manchmal zu leer zum Beten. Dann bin ich froh, dass ich mir Worte von anderen ausleihen kann; von Menschen, die Gebete formuliert und aufgeschrieben haben.
Gebete von anderen Christen sind für mich wie Häuser. Wenn man sie betritt, sind sie einem vielleicht zuerst fremd, es sind ja nicht die eigenen. Aber mit der Zeit kann man sich in die fremden Sätze wie in die Räume eines Hauses einleben und sie sich zu Eigen machen. - Vorausgesetzt man verlässt sie nicht sofort.
Manche sagen: „Das Gebet - das Reden mit Gott - ist eine so persönliche Sache - das kann man nicht von anderen übernehmen". Aber ich sehe das anders. Schließlich hat Jesus selbst für seine Jünger ein Gebet formuliert, das sie beten sollen. Das bekannteste überhaupt: das Vaterunser. Da steckt in wenigen Worten eigentlich alles drin: Etwa die Sorge um die ganz einfachen Dinge wie das „tägliche Brot". Der Umgang mit meinen Mitmenschen, denen ich verzeihen soll, weil Gott auch mir verzeiht. Und die Bitte, dass diese Welt, in der so vieles schief geht, einmal zurecht gebracht wird: „Dein Reich komme". Jemand hat einmal über das Vaterunser gesagt, es sei „das Gebet, das die Welt umspannt". Ich finde, das trifft es ganz gut.
Auch für den Gottesdienst leihe ich mir manchmal ein Gebet aus. Als ich das neulich gemacht habe, kam nach dem Gottesdienst ein Mann auf mich zu und hat gesagt: „Ich habe gedacht, das Gebet, das Sie gesprochen haben, ist nur für mich bestimmt. Ich habe mich in jedem einzelnen Satz wieder gefunden". Er hatte seinen alten Beruf an den Nagel gehängt um mit über 40 Jahren ein Studium zu beginnen und etwas völlig anderes zu machen. Und genau davon handelte das Gebet: Es bat um Gottes Unterstützung für Menschen, die ihrem Leben eine neue Richtung geben wollen und sich deshalb auf ein großes Wagnis einlassen. - Ich bin mir sicher: Es hat dem Mann mehr geholfen als jedes Gebet, das ich selbst formuliert hätte.
Gebete, die einem helfen, wenn einem die eigenen Worte fehlen, findet man zum Beispiel im evangelischen Gesangbuch oder im katholischen Gotteslob. Dort gibt es kleine Gebetssammlungen für verschiedene Tageszeiten und Anlässe. Wenn ihnen auch manchmal die Worte zum Beten fehlen, schauen sie doch mal nach.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14702
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