Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Es ist erstaunlich, was man so alles erben kann: neben Geld, über das sich wohl jeder freut, sind es bei wohlhabenden Familien manchmal ganze Häuser oder wertvoller Schmuck. Aber auch wer nicht auf ein solches Erbe hoffen kann - geerbt haben wir alle schon: nämlich unser Erbmaterial. Dabei denke ich aber gar nicht mal zuerst an mögliche Erbkrankheiten, sondern eher an Eigenschaften, die ich bei mir und meinen Eltern entdecken kann.

Erblich ist aber auch Feindschaft. Im ersten Moment hat mich dieser Gedanke überrascht. Wenn ich jemanden nicht leiden kann, dann beruht das doch auf einer Erfahrung, die ich selbst mit diesem Menschen gemacht habe. Aber es gibt sie: die Erbfeindschaft. Gemeint ist damit ein über Generationen hinweg verhasster Gegner - also ein ererbter Feind.

Bis vor einigen Jahrzehnten zählte Frankreich zu den bitteren Erbfeinden der Deutschen. Als Kind der 80er Jahre kann ich mir das gar nicht mehr vorstellen. In meiner Schulzeit war es selbstverständlich für einen Schüleraustausch ins benachbarte Frankreich zu fahren. Und zahlreiche Deutsche fahren jährlich an die Côte d'Azur, in die Bretagne oder für einen Kurzurlaub nach Paris.

Da ist es fast unglaublich, dass sich am heutigen Tag die Unterzeichnung des Élysée-Vertrags erst zum 50. Mal jährt. Ein Vertrag, der die Grundlage für die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich gelegt hat. Ob Charles de Gaulle und Konrad Adenauer bei der Unterzeichnung des Vertrags erahnt haben, dass beide Nationen, heute so ungezwungen miteinander umgehen?

Mir gibt das Hoffnung. Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft für die Menschen, die noch heute mit anderen im Konflikt leben: sei es im Privaten oder auch in den großen Brennpunkten der Welt, wie in Syrien, in Mali oder im Nahen Osten.

Was es für den Frieden braucht, ist die Offenheit einander kennenlernen zu wollen. Und es braucht den Mut und die Kraft einander zu vergeben. Das geschieht nicht von jetzt auf nachher und die Möglichkeit des Scheiterns gibt es immer.

Die Luxemburger Kommission „Justitia et pax", ist eine katholische Vereinigung, die sich mit Themen wie der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens beschäftigt. Vor ein paar Jahren hat diese Kommission Thesen zum Thema Vergebung zusammengestellt. Ich denke sie können hilfreich sein im politischen wie im privaten Bereich. Darin heißt es unter anderem: 

Vergebung kann ein langer Prozess sein.
Vergebung erfordert keine übereinstimmende Auffassung von der Vergangenheit. Vergebung bedeutet nicht, vergessen.
Vergebung bedeutet, dasUnrecht nicht immer wieder zur Sprache zu bringen.
Vergebung ist Voraussetzung für Neuanfang.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14589
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