Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Man wächst mit seinen Aufgaben, sagt man. Ich glaube, das stimmt nicht. Jedenfalls nicht immer. Man kann an seinen Aufgaben auch scheitern und zerbrechen. Dann fühlt man sich hinterher mutlos und ganz klein. An seinen Aufgaben wächst man längst nicht immer.
Aber an den Kindern, an den eigenen oder an den anderen, an den Kindern wächst man in jedem Fall. Jedenfalls, wenn man sie nicht vor allem als Aufgabe sieht. Wie das ist, habe ich in einem Kalender für Väter gelesen. Ich will Ihnen vorlesen, was da ein Vater geschrieben hat.
Mein liebes Kind, hat er geschrieben, vielen Dank, dass du mich großziehst. Wie bin ich gewachsen, als du - gerade zwei Jahre alt - sagtest: „Mein Papa kann alles!" Wie bin ich gewachsen, als du - gerade fünf Jahre alt - an mich gekuschelt sagtest: „Wie bist du schön warm!" Wie bin ich gewachsen, als du - ganze elf Jahre alt - mich gestellt hast, und zwar zur Rede. Ich bin mir sicher, dass du mich mein ganzes Leben wachsen lässt. Und ich freue mich, trotz mancher Wachstumsschmerzen, schon jetzt darauf.
Das ist die Erfahrung eines Vaters von heute. Ich glaube, genauso ist es Eltern schon immer gegangen, Müttern auch. Wenn ich an Maria denke, die Mutter aus der Weihnachtsgeschichte: Ist sie nicht auch gewachsen mit ihrem Sohn? Zuerst hat sie nicht verstanden, wie ihr geschieht, dann hat sie ihn missverstanden und am Ende war sie eine der ersten, die ihm geglaubt und ihm vertraut hat. Und sie ist bei ihm geblieben bis zu seinem Tod. Auch sie hat erlebt, dass es weh tun kann, wenn man Kinder hat. Aber sie ist gewachsen. Sogar ihr Glaube ist gewachsen an diesem Sohn und mit diesem Sohn.
Ich glaube, man kann deshalb an den Kindern und mit den Kindern wachsen, weil Kinder nicht zuerst eine Aufgabe sind. Sie sind nicht zuerst etwas, was ich leisten und gut machen muss und dabei über mich hinauswachsen vor lauter Anstrengung. Kinder sind nicht zuerst Aufgabe. Kinder sind eine Gabe. Ein Geschenk. Sie sagen: „Mein Papa kann alles!" und „Du bist so schön warm!" Da wächst man. Und dann erst kommt das andere. Dann erst kommen die Aufgaben. Die sind manchmal ganz schön schwer. Aber die Liebe, die man geschenkt bekommt mit so einem Kind - die macht einen stark. Die Liebe lässt einen wachsen.
Manchmal denke ich: Vielleicht hat uns Gott deshalb die Kinder geschenkt. Nicht bloß die eigenen. Auch nicht bloß die anderen, für die wir irgendwo verantwortlich sind: Als Lehrer oder Pfarrerin, als Patenonkel oder Jugendtrainer. Vielleicht hat Gott uns deshalb dieses Kind in der Krippe in Bethlehem geschenkt: damit wir wachsen können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14342
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