Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich finde es immer wieder bereichernd, welch wunderbare Bilder mir die Natur als Lesehilfe für mein Leben schenkt. Eines davon wird für mich sichtbar, wenn ein Baum gefällt wurde und an seinem Stamm dieJahresringe zu sehen sind. Dieses Bild vor Augen kommen mir  Zeilen von Rainer Maria Rilkein den Sinn:

„... ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn...ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen aber versuchen will ich ihn."

Ich mag dieses Bild und ich mag diese Zeilen. Vielleicht weil aus ihnen soviel Gelassenheit und gleichzeitig Mut und Lebensenergie sprechen.

Das Leben eines Baumes, abzulesen an seinen wachsenden Ringen, ist für mich eine Lesehilfe für menschliches Leben. Von innen nach außen entsteht Jahr um Jahr ein Ring. Nichts geht verloren von dem was gelebt und erlebt wurde. Es ist gespeichert innen drin. Gut geschützt von einer manchmal rauen Rinde. In jedem steckt mehr als man von außen sehen kann an Leben und Geschichte. Freud und Leid.

Jeder Baum führt mit diesen Ringen eine ArtTagebuch über sein Leben, breite Ringe erzählen von guten Jahren mit viel Licht und Feuchtigkeit. Schmale, von eher schlechten - mageren. Es war zu trocken oder zu kalt - zu wenig genährte und umwärmte Zeit.

Und welches Menschenleben kennt solche Zeitennicht auch - fette und magere Jahre - helle und dunkle Tage.


Für mich hat dieses geruhsame von innen wachsen dürfen etwas sehr tröstliches ... Tag um Tag rundet sich mein Leben ... mal mehr, mal weniger. Nicht exakt wie mit einem Zirkel, sondern in einem lebendigen Prozess. Da steckt Energie drin...Lebensenergie.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Die sich über die Dinge ziehn

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen

Aber versuchen will ich ihn."

In Rilkes Worten steckenviel Mut und Vertrauen. Und wenn es auch Manchen nicht vergönnt ist -  ihr Leben zu vollenden - mancher Baum wird gefällt, mancher Mensch aus dem Leben gerissen - so bleibt die Hoffnung, dass ein Anderer vollendet - rundet, ganz und heil macht, was fehlt und verwundet ist. Doch bis dahin leb ich mein Leben in wachsenden Ringen ...

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