Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ganz schön alt, sagt meine Tochter, wenn ich Geburtstag habe - aber so schrecklich alt, komme ich mir eigentlich noch gar nicht vor.
Aber immerhin: mehr als die Hälfte des Lebens liegt schon hinter mir. Was das Leben in der restlichen Hälfte mit mir wohl noch so alles vor hat?
Vor einiger Zeit habe ich das Foto einer unvollendete Skulptur gesehen, die ein Bildhauer in Göttingen aus einem Kalksteinblock meißelt. Nicht irgendwo in einem Atelier, sondern mitten im Park der Universitätsstadt. Alle Spaziergänger und Jogger können Tag für Tag dem Fortschritt seiner Arbeit zusehen. Eine laufende Frau soll die Skulptur darstellen - bisher ist die Frau nur bis zur Hüfte aus dem Steinquader „befreit". Wann auch der Rest freigelegt wird, ist ungewiss - denn an dem Künstler allein hängt es nicht - auch die Besucher des Parks bestimmen darüber mit. Jeder, der vorüberkommt kann dem Bildhauer eine kleine Spende geben und dieser wandelt das Geld dann in Schaffenszeit um. Wenn die Skulptur eines Tages fertig ist, haben tausende von Menschen am Entstehen beigetragen.
Vielleicht ist die Skulptur inzwischen längst fertig - aber das fände ich eigentlich schade. Denn das Bild der laufenden Frau, die der Bildhauer noch aus dem Steinblock herausmeißeln muss, hat mich sehr beeindruckt.
Irgendwie fühle ich mich mit meinen 46 Jahren selbst wie diese laufende Frau, die bisher erst zu einem Teil sichtbar ist. Ich muss an einen Satz aus der Bibel denken, eine Zeile aus einem Psalmgebet: „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war." Ich verstehe das so: Wie mit dem Auge eines Künstlers hat Gott mich schon gesehen, als ich noch nicht da war. Als ich geboren wurde, hat er mich hervor geholt aus seinen Gedanken und mir Gestalt verliehen. Und er gestaltet mich seitdem fortwährend - eine Läuferin, die ihren Lebensweg geht. Jetzt, mit 46 bin ich noch lange nicht fertig. Gott ist noch immer an der Arbeit, scheint mir. Und nicht nur er - jeder, der mir begegnet, formt mich: wenn mich jemand liebt, wenn mich jemand verletzt, wenn ich jemanden bewundere - das alles hinterlässt Spuren an meiner Lebensskulptur, gestaltet sie mit.
Ein schöner Gedanke: Meine Lebensskulptur ist noch nicht vollendet, Ihre auch nicht!
Gott ist immer noch an der Arbeit. Und wer weiß, was noch alles Unentdecktes und Spannendes zum Vorschein kommen wird!

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