SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Von einem bestimmten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht verantwortlich." Ein Wort von Albert Camus. Ich denke, er meint: Kein Körperteil steht so im Mittelpunkt wie das Gesicht. Das Gesicht ist Spiegel der Seele. Es gibt etwas von meinem Leben preis. Mit der Zeit wandelt sich unser Gesicht.  Nichts anhaben konnte die Zeit dem Gesicht eines jungen Bergmanns, der kurz vor seiner Hochzeit unter Tage tödlich verunglückte. Seine Leiche wird erst Jahrzehnte später aus Schutt und Wasser ausgegraben. Das eisenhaltige Wasser hat seinen Körper durchtränkt. Seine Gesichtszüge blieben erhalten. Der Tote wird zutage gefördert, aber niemand kann sich an ihn erinnern. Seine Angehörige und Freunde sind längst verstorben. Schließlich kommt zitternd und gebeugt auf ihrem Stock eine alte Frau herbei. Sogleich erkennt sie in dem Toten ihren früheren Bräutigam. Vor mehr als 50 Jahren war er einige Tage vor der Hochzeit im Bergwerk verschüttet worden.
* Die Geschichte erinnert an einen Film, der um ein Vielfaches zu schnell läuft. Unsere Erfahrung: Die Zeit hinterlässt Spuren in unseren Gesichtern. Nur in leblosem, konserviertem Zustand kann ein Mensch sein Gesicht wahren, wie in der anrührenden Geschichte. Ein lebendiges Gesicht erzählt vom Leben, gibt Einblicke ins Leben, ist gezeichnet vom Leben. Die Spuren der Zeit im Gesicht eines Menschen sind wie ein Ausweis all dessen, was dieser Mensch erlebt hat. Dass er sich gefreut hat am Leben, das er gelitten hat in seinem Leben. Und jeder Gesichtszug, jede Falte sagt: Ich lebe. Ich bin auf dem Weg durch die Zeit.  

 

 

 

* Geschichte von Johann Peter Hebel

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13911
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