Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Einen Menschen zu lieben bedeutet nie mit ihm fertig zu sein." Dieser Satz eines Psychologen ist mir hängen geblieben. Denn es ist eine so bekannte wie berechtigte Sorge, dass eine Beziehung irgendwann langweilig wird. Durch ihre Länge oder durch zuviel Nähe, wenn sich die Partner zu genau zu kennen meinen und irgendwann scheinbar fertig miteinander sind.
Diese Sorge sieht aber nicht die Entwicklungsmöglichkeiten, die in jedem Menschen individuell und auch in jeder Beziehung stecken. Sollen Partner und Beziehung lebendig bleiben, muss man eine so alte wie wichtige Regel befolgen: Sich kein festes Bild machen. Den Partner in keine Schublade stecken. Nicht umsonst steht das Bilderverbot auch an erster Stelle der 10 Gebote. Gott soll und kann nicht festgezurrt, nicht in ein Bild gepresst werden. Dazu ist er zu groß, zu frei und zu unerklärlich. Wie auch die Liebe. Kaum jemand hat das treffender formuliert als Max Frisch. Unter der Überschrift „Du sollst Dir kein Bildnis machen" schreibt er:

Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben am mindesten aussagen können wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft einem Menschen zu folgen in all seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben.

Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, so unfassbar ist der Mensch, den man liebt - Nur die Liebe erträgt ihn so."  

Quelle: Max Frisch „Stich-Worte". Ausgesucht von Uwe Johnson. Suhrkamp Taschenbuch2728. Frankfurt 1975. Seite 44.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13803
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