Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Geduld ist nicht so meine Sache. Am liebsten will ich immer gleich alles fertig haben: zum Beispiel das Studium oder die anschließende Ausbildung. Ich möchte alle Anforderungen auf einmal erfüllen können. Und das dann auch möglichst gut.
Es sind die großen Dinge, in denen meine Geduld in hohem Maße gefordert ist. Ich kenne aber auch die kleinen, alltäglichen Geduldsübungen.
Madeleine Delbrêl, eine christliche Schriftstellerin, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich gelebt hat, beschreibt diese auf wunderbare Weise:

„Schon am Morgen suchen (...) uns [die kleinen Geduldsproben] auf:
Unsere Nerven sind angespannt oder gehen mit uns durch;
der Bus ist schon voll, die Milch kocht über,
die Kinder machen alles durcheinander;
der Mann bringt Gäste mit, ein Freund kommt nicht;
das Telefon läutet ununterbrochen,
die, die wir lieben, streiten sich;
man möchte schweigen und muss reden;
man möchte reden und muss schweigen;
man möchte ausgehen und muss daheim bleiben,
und zu Hause bleiben, wenn man weg muss;
man sucht im Mann eine Stütze, und der wird schwach wie ein Kind;
das tägliche Einerlei ödet uns an, und wir sehnen uns nach all dem,
was wir nicht haben können."

Eine ganze Liste an kleinen alltäglichen Geduldsübungen. Und die gilt es durchzustehen.
Madeleine Delbrêl erkennt in ihnen aber eine Chance: Wer diese Geduldsproben besteht, kann zeigen, was es bedeutet, als Christ zu leben. Denn wer geduldig und gelassen durchs Leben geht, der macht eine ganz besondere Facette Gottes sichtbar: Gott, der uns Menschen liebt und der uns kennt: mit all unseren Stärken, aber auch mit unseren Grenzen. Und er lässt uns Zeit. Zeit, um zu reifen und uns zu entwickeln; Zeit, um Wege auszuprobieren und um zu erkennen, was uns gut tut und mit was wir uns und anderen schaden. Ich finde das eine großartige Seite Gottes. Und weil Gott so geduldig ist, dürfen wir das auch mit uns selber sein. Das heißt nicht, sich vorschnell mit allem abzufinden und einfach alles hinzunehmen. Aber es bedeutet abzuwägen, wann es sich lohnt, meine Kräfte einzusetzen, damit sich etwas ändert, und wann es eben besser ist, den Dingen Zeit zu geben. Ich bewundere Menschen, die Geduld mit sich selbst und mit ihrem Leben haben. Und ich möchte mich den kleinen Geduldsübungen stellen, die das Leben heute für mich bereit hält.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13629
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