Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

"Hörst Du?" fragt er mich. Ich lausche angestrengt - und höre nichts. "Hörst Du?" fragt er noch mal - ich höre immer noch nichts. Was könnte er meinen? "Hörst Du die Stille?" sagt er schließlich.
Tatsächlich. Es ist verblüffend. Es ist tatsächlich mucksmäuschenstill.
Es gibt wenig Orte, wo man eine solche Stille erleben kann. Wir sind auf dem Land. Ein einsamer Bauernhof. Keine größere Straße, keine Bahnlinie, kein größerer Ort in der Nähe. Der alte Bauer ist stolz darauf, dass der Ort so still ist. Die Stille ist wunderbar. Auf die Stille aufmerksam gemacht, fange ich an, einzelne Geräusche zu hören. Es summt eine Fliege vorbei, weit weg zwitschern Vögel. Im Garten ganz nah kratzen und scharren die Hühner, ich höre sogar das Kauen der Kühe im Stall. Ich fange an, mich auf die Geräusche in der Umgebung richtig zu konzentrieren. Sie kommen mir jetzt vor wie die einzelnen Instrumente eines großen Orchesters. Dieses Lauschen ist gleichzeitig entspannend und, wie soll ich sagen, anstrengend. Bewusst hören ist nicht nur etwas Passives, sondern eine äußerst aktive Tätigkeit.
Es erfordert Konzentration ganz allmählich jedes einzelne der leisen Geräusche zu unterscheiden. Der alte Bauer legt den Finger an den Mund und bedeutet mir, weiter zu schweigen. Wir schauen uns an und es ist ein heiliger Moment. Er lächelt weise. Die Stille ist wie Musik. Ich versuche mich auf die leisesten Geräusche zu konzentrieren, sie wie einzelne Instrumente aus einem Orchester herauszuhören.
Zwischendurch glaube ich Stimmen zu hören. Aber das ist nur meine Phantasie, die aus dem Konzert der leisen Töne versucht, etwas sinnvolles zu machen. Außer mir und dem Bauern sind nur Tiere in der Nähe. Es kommt mir vor, als wären es Stimmen aus der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft. Manche kommen von weit her.
Ich fühle mich, als ob ich an der Symphonie des Universums, am Gedächtnis der Zeit teilnehme.
Verschiedene spirituelle Traditionen legen großen Wert auf das Hören, das bewusste Hören in die Stille hinein. Ausschließlich hören und schweigen ist ein Weg zu sich selbst und zu Gott.
So komme ich unversehens zu einer Meditation, mitten am Tag, einfach so beim Milchholen.
Schweigend und mit einem Lächeln verabschiedet mich der Bauer. Er hat das Glück, täglich die Stille hören zu können.

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