Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich möchte gerne eine Geschichte vonKuno Bärenbold erzählen. Sie ist hintergründig und überraschend humorvoll:
Susanne hat in der Firma einen ausgezeichneten Ruf. Niemandem sonst wird so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sie genießt den besonderen Schutz der Arbeiter und Angestellten. Dabei ist Susanne nicht besonders schön oder attraktiv oder hat sie andere außergewöhnliche Vorzüge. Sie ist schweigsam, doch das mindert nicht im Geringsten die Sympathie und Zuneigung, die ihr entgegengebracht werden. Susanne wird mit herzlichen und sanften Worten geradezu überhäuft. Sonst ist der Umgangston in den Büros, Lagerhallen und Produktionsstätten eher rau und gehässig.
„Susanne, wenn wir dich nicht hätten...!" „Susanne, hast du ein bisschen Zeit für mich?" „Susanne, lauf doch nicht weg!" „Susanne, heut siehst du aber wild aus, hast du Streit gehabt?" - Liegt es am Wesen von Susanne, dass harte Männer in ihrer Gegenwart aufmerksame und menschliche Züge zeigen, sogar freundliche Sätze über die Lippen bringen? Oder liegt die Ursache für diesen ungewohnten Vorgang darin, dass Sie weiblich ist? Anzunehmen ist, dass ihr anmutiger Gang die Herzen höher schlagen lässt. Mit unaufdringlicher Eleganz spaziert sie über den Hof, durch das Lager und das Treppenhaus. Ein wahrer Genuss. Arbeiter unterbrechen ihre Tätigkeit, der flimmernde Bildschirm wird für Augenblicke uninteressant, per Zeichensprache wird ihr Erscheinen angekündigt und manche suchen das kurzweilige Gespräch. Über angespannte Gesichter und finstere Mienen huscht ein Lächeln. Völlig unerwartet kann eine bedrückende Stimmung einer befreienden und wohltuenden Atmosphäre weichen. Susanne wird nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen zuvorkommend behandelt. Es gibt keinerlei Neid und Eifersucht. Unumstritten ist Susanne die Persönlichkeit in der Firma!Über so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung ist Susanne natürlich sichtlich erfreut und tief bewegt. - Warum können die Arbeiter oft nur ihr gegenüber ihre Gedanken und Gefühle mitteilen und nicht auch untereinander Menschliches zeigen? Warum stehen die Angestellten nicht zusammen und erzählen, was sie bewegt?Warum nehmen sie sich nicht - wie für Susanne - Zeit füreinander und schenken sich Aufmerksamkeit? Warum können sie in der Firma nicht menschlicher miteinander umgehen? Leider kann Susanne diese Fragen nicht beantworten, aber auch nicht stellen. Denn Susanne ist eine Katze.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13536
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