Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Ich weiß nicht, ob die Geschichten in der Bibel wahr sind. Vieles kommt mir so erfunden vor."
Meine Zugnachbarin hat das gesagt. Aber eigentlich war es eine Frage. Sie wollte wissen, was ich denke. Wir sitzen öfter im Zug nebeneinander. Auf dem Weg zur Arbeit. Da hat sie mitbekommen, dass ich Pfarrer bin. Darum bringt sie das Gespräch darauf: „Ich weiß nicht, ob die Geschichten in der Bibel wahr sind oder erfunden". Und dabei sie schaut mich erwartungsvoll an.
„Ich gehe davon aus, dass in der Bibel Ereignisse stehen, die sind so passiert," ist meine erste Antwort: „Jesus ist gekreuzigt worden und dabei ums Leben gekommen, das ist Fakt. Davon gehen alle ernst zu nehmenden Historiker aus. Das steht nicht nur in der Bibel, das berichten auch andere Schriften von damals.
Es gibt aber auch Geschichten, die sind wohl so nicht passiert. Aber das ist für mich oft nicht entscheidend. Viele sind für mich trotzdem wahr. Weil sie erzählen, worauf es ankommt im Leben. Damit es nicht verlogen ist, sondern ehrlich, wahrhaftig, mein Leben.
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter zB. das ist für mich so eine Geschichte. Wahr, obwohl Jesus sie vermutlich erfunden hat. In der Bibel gibt es viele wahre Geschichten von dieser Art. Wahr und wirklich passiert, das ist nicht dasselbe.
Es gibt übrigens auch das Umgekehrte: Jeden Tag sehe ich Nachrichten in der Tagesschau. Da bin ich sicher, das ist wirklich passiert. Aber es lässt mich kalt. Nach dem Wetterbericht habe ich es schon vergessen. Wirklich ist das, aber wahr, für mich, das ist was anderes.
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die ist anders als solche Nachrichten. Ich muss mich nur in den Mann rein versetzen, von dem sie erzählt, dann spür ich, wie wahr sie ist. Überfallen hat man ihn. Jetzt liegt er da, im Straßengraben. Verletzt. Allein. Hat Schmerzen. Und keine Hilfe in Sicht. Dann kommt doch einer vorbei. Aber was macht der? Wechselt die Straßenseite, tut als hätte er ihn nicht gesehen. Ist sich entweder zu fein, zu helfen, oder hat Angst, dass die Täter noch in der Nähe sind. Und ihn auch überfallen.
Unmenschlich ist das, das ist wohl wahr. Und wahrhaft menschlich ist der, der dann vorbeikommt. Das ist auch wahr. Der Samariter, der sich kümmert, ihn versorgt und verbindet. Der verhält sich wie ein wahrer Mensch."
Diese Geschichte verändert mich, obwohl sie wohl erfunden ist. Weil sie mich fragt: Bin ich ein wahrer Mensch? Oder gehe ich auch vorbei, wenn mich jemand braucht?

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