Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Die Jahre vergehen wie im Flug", sagt man. Bei der Rückfahrt aus unserem letzten Urlaub war das tatsächlich so.
Mein Sohn kam nämlich auf die Idee, die digitale Uhrzeit in unserem Auto als Jahreszahl zu lesen: 20:02 Uhr - also zwei, null, null, zwei - war 2002. „Jetzt bin ich geboren", rief er vom Rücksitz. Jede Minute verging ein Jahr und er machte sich einen Spaß daraus, die Lebensalter der Autoinsassen zu berechnen. „Jetzt bin ich 15 und ihr seid 46", hieß es im Jahr 2017, also um 20:17 Uhr. Das war anfangs noch lustig, aber mit zunehmender Uhrzeit wurde meiner Frau und mir ganz mulmig zu Mute. Und als er um 20.55 Uhr wieder mit Rechnen anfing, riefen wir fast gleichzeitig nach hinten: „Hör bitte auf damit!".
Der Gedanke an das Alter - im Jahr 2055 wäre ich immerhin 84 - und die Frage „Gibt es uns da überhaupt noch?" haben meine Frau und mich beunruhigt. Ich denke, das geht vielen Menschen so: Mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert zu werden, macht keinen Spaß, sondern Angst.
In einem Psalm der Bibel betet ein Mensch zu Gott: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden" (Psalm 90,12). Offensichtlich ist es auch ihm schwer gefallen, an den eigenen Tod zu denken, sonst müsste er Gott ja nicht bitten, ihm das beizubringen. Aber ist es wirklich „klug" an das zu denken, was einem Angst macht? Ist es nicht besser, den Gedanken an das Alter und den Tod zu verdrängen und wenn es kommt dann kommt es halt?
Ich glaube nicht, dass das besser ist. Denn es macht schon einen Unterschied, ob ich mir klar mache, dass meine Jahre begrenzt sind, oder ob ich so lebe als hätte ich unendlich viele davon. Weil meine Lebenszeit begrenzt ist, deshalb ist sich auch kostbar. Und wenn ich mir das klar mache, dann werde ich auch bewusster mit dieser Zeit umgehen. Menschen, denen der Arzt sagt, dass sie nicht mehr lange zu leben haben, machen das. Aber muss ich erst krank werden, damit ich merke wie kostbar jeder Tag ist?
Ganz ehrlich: trotzdem bleibt auch bei mir ein mulmiges Gefühl, wenn ich an Alter und Tod denke und ich schiebe die Gedanken daran gerne weg. Aber klug wird man ja auch nicht an einem Tag. Und vielleicht ist es schon ein erster Schritt, die Gedanken an die eigene Vergänglichkeit zuzulassen. Wenn ich wieder mal abends zwischen acht und neun mit dem Auto unterwegs bin, werde ich öfter mal auf die Uhr schauen und die Jahreszahlen auf mich wirken lassen.

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