SWR2 Wort zum Tag

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Brüderlichkeit ist ein altes Wort, das wir kaum noch gebrauchen. Um wiederzugeben, was es meint, sprechen wir geschlechtsneutral von Solidarität, auch von Verbundenheit, die Verantwortung für einander einschließt. Das Wort gehört aber immerhin zum Wahlspruch des französischen Staates, der heute seinen Nationalfeiertag begeht. An Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden in Frankreich kann man es lesen - zusammen mit den Worten Freiheit und Gleichheit: Liberté, Egalité, Fraternité sind die drei Worte, die an die Errungenschaft der Französischen Revolution, an die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in ihrer Folge erinnern. Sie sollen auch heute das Zusammenleben in der Gesellschaft und die staatliche Ordnung bestimmen - und sie sind Ziele, die in der Realität immer neu anzustreben sind.
Ich finde es beachtlich, dass die Freiheitsrechte und die in ihrer Würde begründete Gleichheit aller Menschen so eng mit Solidarität und der Verantwortung für einander verbunden werden. In einem Artikel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ist darum von der Freiheit die Rede, die ihre Grenze darin findet, dass Andere keinen Schaden erleiden sollen. Diese Erinnerung an die Grenzen der Freiheit und die Verantwortung füreinander hat an Aktualität nichts verloren. Man kann an den Verkehr denken, in dem Andere nicht gefährdet werden sollen, oder an ein Verhalten in der zu Recht freien Wirtschaft, das aber nicht zu Lasten Anderer gehen soll. - Freiheit ohne Solidarität, ohne Rücksicht auf Andere funktioniert nicht. Und die Gleichheit aller Menschen wird verletzt, wenn Menschen massiv durch Andere benachteiligt werden.
Lange haben die Kirchen den revolutionären Aufbruch am Ende des 18. Jahrhunderts abgelehnt.  Mitte des 19. Jahrhunderts haben Kirchenleute aber Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit christlich interpretiert. Da wurde z.B. auf die Brüderlichkeit Jesu hingewiesen. Er wurde der Bruder der Menschen, weil er ihr Leben und ihr Sterben geteilt hat. Wie ein Bruder war er für seine Geschwister da, vor allem für die, die gelitten haben oder aus dem geschwisterlichen Miteinander ausgegrenzt wurden, die sich auch schuldig gemacht haben. Er hat schließlich sein Leben hingegeben, damit  alle seine Geschwister Befreiung von ihrer Schuld glauben und erfahren können. Wer sich so befreit weiß, kann die Sorge um sich selbst immer wieder hinter sich lassen. Er gewinnt Raum für Andere und wird in der Verantwortung für sie ihr Bruder oder ihre Schwester. - Brüderlichkeit ist ein altes Wort. Was es aber meint, kann und soll das Leben bestimmen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13406
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