Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Filme, in denen man ein Taschentuch braucht, spielen oft mit Klischees. Mit Vorstellungen, die uns so selbstverständlich sind, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, sie könnten auch falsch sein. In Heimatfilmen sind Erbbauern geizig und engstirnig, mittellose Burschen haben das Herz auf dem rechten Fleck und sind jungenhaft charmant. Und wenn im Western einer dunkle Bartstoppeln hat und auf etwas rumkaut, ist er ein gesetzloser Schurke. Und bei den Frauen sind die guten blond und die bösen schwarzhaarig.
Ich merke immer wieder, dass auch ich Klischees aufsitze, die ich bei Licht besehen weit von mir weisen würde. Eines verfolgt mich hartnäckig und führt immer wieder zu Enttäuschungen. Von Armen erwarte ich, dass sie quasi die ‚besseren Menschen' sind, aufrichtig, würdevoll, geradlinig und vor allem dankbar, wenn sich ihnen jemand zuwendet. Daher kommt dann die Empörung, wenn die scheinbar körperbehinderten Bettler in der Fußgängerzone am Abend die Krücken unter den Arm nehmen und aufrecht weggehen. Oder wenn bekannt wird, dass viele zu einer großen organisierten Gruppe gehören und gemeinsam auf Tour gehen. Warum eigentlich? Warum ist mein moralischer Anspruch an Arme höher als an andere? Wenn eine Bank, die durch unser Geld reich geworden ist, den Euro kaputt spekuliert, mische ich mich nicht empört ein. Aber wenn ich einem Bettler ein Geldstück gebe, erwarte ich, dass damit Brot gekauft wird und nicht etwa Zigaretten oder Schlimmeres. Vielleicht haben wir im Ohr, dass im Evangelium die Armen seliggepriesen werden (Lukas 6,20). Und schließen daraus, dass sie auch die ‚besseren Menschen' seien. Sind sie aber nicht, und noch viel wichtiger: sie müssen es auch nicht sein. Wenn ich keine andere Möglichkeit sehen würde um mich durchzuschlagen, würde ich vielleicht auch zu Tricks und kleinen Gaunereien greifen. Das muss ich mir immer wieder klarmachen. Wenn ich von Armen erwarte, dass sie besser sein sollen als die Reichen, dann ist das kitschige Sozialromantik. In Spielfilmen mögen solche Klischees ja unterhaltsam sein, aber mit dem ‚richtigen Leben' haben sie nichts zu tun. Und mit leibhaftigen Menschen erst recht nicht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13311
weiterlesen...