Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Die Fußgängerampel ist grün und ich komme bis zur Mitte der breiten Straße. Dann steht die Straßenbahn im Weg und signalisiert, dass sie losfahren wird, das gelbe Signal blinkt. Aber es dauert und dauert, und ich werde ungeduldig. Ich sage gereizt „ja, was jetzt" und erwarte, dass die Frau neben mir zustimmt. Aber sie sieht das offenbar anders und sagt: „Ach, wir haben doch Zeit." Ich empfinde den Ton und die Aussage als belehrend, und bevor ich nachdenke, höre ich mich sagen: „Sie vielleicht!" und dann wollte ich noch nachsetzen: „wenn ich in Ihrem Alter bin, kann ich mir auch Zeit lassen", zum Glück sprach ich es nicht aus. Die Bahn fuhr immer noch nicht, eine quälend lange Minute standen wir noch nebeneinander, schweigend und fast feindselig. Dann ging's weiter und wir verloren uns schnell aus den Augen. Trotzdem hat mich die Sache den ganzen Vormittag beschäftigt. Eine Weile hab ich noch versucht, mich in Gedanken zu rechtfertigen - was muss die auch so ihre yogageübte Gelassenheit demonstrieren? Aber bald hab ich gemerkt, dass der Ärger in Wirklichkeit mit mir selbst zu tun hatte und die schlechte Laune auch. Warum ist mir da so was Fieses rausgerutscht? Und was könnte ich tun, um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen? Ich kann einen Blick entwickeln für das, was ich nicht ändern kann, und das dann auch einfach hinnehmen, ohne große Emotionen, ist halt so, fertig. Ich kann mir zur Regel machen, erst das Gehirn einzuschalten und dann das Mundwerk. Ich kann versuchen, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren und Details wahrzunehmen, die schicken Schuhe der Frau, die vorbeigeht, oder den Hund mit den wippenden Ohrenspitzen. Ich kann meine Gedanken wieder einfangen, wenn sie schon zehn Schritte voraus sind und den Körper ungeduldig machen und den Blutdruck steigen lassen. Ich kann beim Warten in der Schlange zum Beispiel einen Menschen bewusster anschauen und für ihn beten. Ich kann im Stillen sagen: Sei bei ihm, Gott, und lass ihn heute Glück erleben. Also, liebe Unbekannte von der Fußgängerampel, sollten Sie das jetzt zufällig hören, dann wünsche ich Ihnen, dass Sie auch heute Ihre innere Ruhe bewahren können. Und sollten wir uns jemals wieder treffen, dann will ich das Meine dafür tun, dass unsere zweite Begegnung erfreulicher werden kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13310
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