Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Gesetzt den Fall, Sie haben noch keinen umgebracht, womit erklären Sie sich das?" Nein, ich habe mich nicht versprochen. Die Frage heißt wirklich so. Der Schriftsteller Max Frisch hat sie gestellt, in seinem ‚Tagebuch', das 1972 veröffentlicht wurde. „Gesetzt den Fall, Sie haben noch keinen umgebracht, womit erklären Sie sich das?" Ja, womit eigentlich? Ich lasse mich provozieren von dieser unglaublichen Frage. Wenn ich's mir nüchtern überlege, muss ich sagen, ich weiß es auch nicht so genau. Vielleicht weil ich halt so ein guter Mensch bin, der niemals wirklich aggressiv wird? Nein, ganz bestimmt nicht, da kenne ich mich besser. Oder weil ich lernen konnte, Konflikte anders zu lösen als mit körperlicher Gewalt? Schon eher möglich. Oder weil ich schlicht das Glück hatte, bisher noch nie in eine Situation zu kommen, in der ein Mensch durch mich ums Leben kam? Das auf jeden Fall. Und wie ich so ins Nachdenken komme, wird mir klar, wie wenig selbstverständlich das alles ist, wie viel Glück da auch im Spiel ist und dass mein Leben auch eine ganz andere Wendung hätte nehmen können. Ich versuche, den Gedanken von Max Frisch umzuformulieren, dann klingt das ungefähr so: Menschen sind tatsächlich zu allem fähig, im Guten und im Bösen. Schon auf der dritten Seite steht in meiner Bibel die Geschichte von zwei Brüdern, Kain und Abel. Zunächst kommen sie gut miteinander aus, dann schleicht sich Eifersucht ein, wie das unter Geschwistern halt manchmal so ist. Der Konflikt eskaliert, und am Ende steht ein Totschlag. Kain, der Täter, wird mit seiner Tat nicht fertig und findet keine Ruhe. Ein Leben lang ist er auf der Flucht, vor sich selbst, vor seinem Gewissen und vor Vergeltung. Gottes Segen aber verliert er nicht. Auch als er seinen Bruder umbringt, überlässt Gott ihn nicht sich selbst und seiner Schuld. Er schützt ihn sogar davor, selbst zum Opfer von Rache zu werden. (Genesis 4) Ein Totschlag oder gar ein Mord ist entsetzlich und schreit nach Gerechtigkeit, auch wenn er nicht wieder gut zu machen ist. Und doch ist auch ein Täter keine Bestie und schon gar kein Teufel, sondern ein Mensch. Ein Mensch, der durch keine Bosheit und keine Verirrung und kein Schicksal aus Gottes Hand fallen kann. Ein Mensch wie ich - auch wenn ich in den Worten von Max Frisch „noch keinen umgebracht" habe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13309
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