Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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In einem Theaterstück hätte er die tragische Rolle. Nicht die ganz große Rolle und auch nicht die ganz große Tragik. Johannes der Täufer war kein Held, er verwahrte sich sogar dagegen, einer zu sein, wenn die Leute ihn dazu machen wollten. Nein, sagte er immer wieder, ich bin's nicht, auf den unser Volk seit Jahrhunderten wartet, ich bin nur dazu da, ihn anzukündigen.
Das ist seine Rolle. Keine ausgesprochene Traumrolle. Aber Johannes nimmt sie an und füllt sie mit großem Ernst aus. Als Person hat er eine herbe Ausstrahlung, und mit seiner kompromisslosen Entschlossenheit macht er sich nicht nur Freunde. Der Obrigkeit ist dieser unbequeme Mahner ein Dorn im Auge, und irgendwann landet er im Gefängnis. Und dort überfällt ihn auf einmal der Zweifel. Ist Jesus wirklich der verheißene Messias? Johannes wird unsicher, sein Glaube bekommt Risse und der Boden unter seinen Füßen beginnt zu schwanken. Hier kommt Tragik in sein Leben. Und hier kann ich auf einmal mit ihm mitfühlen; denn solche Gedanken sind auch mir nicht fremd. Was mich an Johannes fasziniert: Er wusste, dass er nicht der Nabel der Welt ist. Er war damit einverstanden, dass sein Platz in der zweiten Reihe ist, und sah seine Aufgabe darin, die erste Reihe freizuhalten für den, der größer und wichtiger ist als er selbst, für Jesus von Nazaret. ‚Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.' (Joh 3,30) Dieses Wort ist für immer mit Johannes verbunden. Johannes der Täufer ist der Patron aller, die heute Namenstag feiern, denn heute ist sein Tag. Und er ist auch das Vorbild derer, die ihren Platz in der zweiten Reihe ausfüllen. Ich denke an den Seniorchef, der seinen Betrieb ohne Groll dem Nachfolger übergibt, auch wenn er weiß, dass der vieles anders machen wird. Ich denke an den Jugendlichen, der im Schülertheater die interessante Rolle nicht bekommen hat und jetzt als Beleuchter hinter der Bühne zum Erfolg beiträgt. Ich denke an die Mutter, die sich freut, wenn die Komplimente, die sie früher bekam, jetzt der Tochter gelten. Nicht im Vordergrund stehen müssen. In die zweite Reihe treten können. Platz machen. Anderen Raum geben und sie unterstützen. Sich mitfreuen, wenn sie sich entfalten können. Wer das kann, zeigt Stärke und Größe. Wie Johannes der Täufer.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13307
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