Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Ein Mann öffnet eine Schublade der Kommode seiner Frau. Er holt ein kleines Paket raus. In diesem  Paket ist feine Wäsche. Er betrachtet die Seide und die Spitzen. Der Mann erinnert sich gut: „Das habe ich ihr vor 8 oder 9 Jahren in New York gekauft, aber sie hat es nie getragen. Sie wollte es aufbewahren, für eine besondere Gelegenheit. - Nun ja, ich glaube, jetzt ist der Moment gekommen." Er geht zum Bett und legt das Päckchen zu den anderen Sachen, die der Bestatter mitnehmen wird. Seine Frau ist gestorben.
Diese Geschichte hat mir ein Freund erzählt und mich damit ganz schön nachdenklich gemacht. Meine erste Reaktion: „Hebe niemals etwas für einen besonderen Anlass auf. Jeder Tag, den du erlebst, ist besonders!" Immer wieder denke ich an die Geschichte, sie hat einiges in mir bewirkt: Ich lese mehr als zuvor und gehe auch mal ins Kino. Ich setze mich öfter auf die Terrasse, genieße den Blick in den Garten und schaue den Vögeln nach. Ich verbringe mehr Zeit mit meinen Freunden. Ich habe begriffen, dass das Leben aus einer bunten Sammlung an Erfahrungen besteht, die ich mehr schätzen sollte. Außerdem schone ich nichts mehr: Ich nehme die Gläser mit dem modernen Design auch am Werktag. Ich ziehe meine neue Jacke auch zum Einkaufen an, wenn mir danach ist. Ich hebe mein bestes Parfum nicht mehr für die feierlichen Anlässe auf, sondern benutze es, wenn ich Lust dazu habe. - Worte wie „irgendwann einmal" oder „wenn ich Zeit habe" möchte ich möglichst aus meinem Vokabular verbannen. Es sind die kleinen, nie getanen Dinge, die mich ärgern würden, wenn ich wüsste, dass meine Stunden gezählt sind. Ich wäre traurig, gute Freunde nicht mehr getroffen zu haben, mit denen ich schon so lange wieder Kontakt aufnehmen wollte ... irgendwann eben. Traurig, dass ich die Briefe nicht mehr geschrieben habe, die ich schon so lange schreiben wollte ... irgendwann eben. Traurig, dass ich meinen Lieben nicht öfters gesagt habe, dass ich sie liebe. Traurig, dass ich so wenig „Danke" gesagt habe. - Ich nehme mir vor, möglichst nichts mehr zu verschieben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13032
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