Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Francesco, geh und baue meine Kirche wieder auf, weil sie zerfällt" - diese Stimme hört der heilige Franziskus in der Einsamkeit von San Damiano, einem verlassenen und halbverfallenen Kirchlein in der Nähe von Assisi. Das war vor 800 Jahren. Franziskus nimmt das zunächst wortwörtlich und richtet das marode Kirchlein wieder her. Doch bald wird ihm klar, dass mit dieser Stimme an ihn mehr gemeint ist. Es geht um die Erneuerung der gesamten Kirche. Kirche und Gesellschaft damals waren in Macht, Ruhm und Geld verstrickt. Das Christentum hatte sich weit von seinem Ursprung entfernt, die Menschlichkeit blieb auf der Strecke. Franz von Assisi nimmt die Herausforderung an und geht fortan seinen Weg - konsequent, mehr noch, radikal im Geist des Evangeliums und in der Nachfolge Jesu: einfach und freiwillig arm, in Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen, vor allem zu den Armen und Kranken. Und - für damals etwas völlig Neues - in Liebe zur Schöpfung, zur Natur, zu den Tieren und Pflanzen. Zur gleichen Zeit sieht der  machtorientierte Papst Innozenz III. in einem Traum die Kirche wanken. Fast am Einstürzen sieht er sie gestützt von einem Mann, den er als Franz von Assisi erkennt. Diese Szene ist auf einem Wandfresko des italienischen Malers Giotto festgehalten. Es befindet sich in der Basilika San Francesco in Assisi. Lange und nachdenklich bin ich vor diesem Bild gestanden. Dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Ich brauche nach 800 Jahren nicht zu träumen um zu erkennen, dass meine katholische Kirche wieder am Wanken ist. Sie steckt in einer tiefen Krise. Bis Sonntag findet in Mannheim der Katholikentag statt. Sein viel versprechendes Motto: „Einen neuen Aufbruch wagen". Ich wünsche und hoffe, dass davon ein starker Impuls ausgeht. Dass meine Kirche zu tief greifenden Reformen fähig und bereit ist. Reformen aus dem Geist Jesu. Dass sie sich durchringt zu einer „Kultur der Barmherzigkeit". Gerade den Menschen gegenüber, die den moralischen Höchstfoderungen der offiziellen Kirche  nicht entsprechen: etwa wiederverheiratete Geschiedene und Homosexuelle. Dass meine Kirche bescheidener wird statt dogmatisch autoritär. Und dass sie sich öffnet hin zu mehr Vertrauen in die Menschen, zu mehr Liebe zu Gott und zur Freude am Glauben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13031
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