Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Wer eigene Gedanken hat, braucht sich vor fremden Gedanken nicht zu fürchten" - das klingt spannend! Agrippa von Nettesheim hat das gesagt. Wer das ist, musste ich zuerst einmal nachschauen. Agrippa von Nettesheim war Arzt, Theologe und Philosoph. Er lebte im 16. Jahrhundert (1486-1535), in der aufgewühlten Zeit der Reformation. Er legte sich an mit der katholischen Kirche. Und er wehrte sich entschieden gegen die Hexenprozesse. Agrippa ist immer ein freier und selbst denkender Mensch geblieben. Ihm verdanken wir diesen Satz: „Wer eigene Gedanken hat, braucht sich vor fremden Gedanken nicht zu fürchten" - für mich ein kostbarer Satz, ich verstehe ihn so: Wer eigene Gedanken hat, der braucht sein Fähnchen nicht in den Wind hängen und allem nachlaufen, was gerade „in" ist und als „modern" gepriesen wird - aus lauter Angst, ja nichts zu versäumen. Wer eigene Gedanken hat, der braucht sich nicht ängstlich oder fanatisch abzuschotten gegen andere Erfahrungen und neue Erkenntnisse. Wer eigene Gedanken hat, der ist tolerant. Toleranz heißt nicht: jeder soll tun und lassen, was er will - so eine Art Beliebigkeit. Toleranz kommt vom lateinischen „tolerare" und bedeutet: aushalten, erdulden, ertragen. Wenn ich tolerant bin, dann gestehe ich dem andern selbstverständlich das Recht zu und lasse ihn das auch spüren: Du darfst anders sein als ich und zu anderen Schlüssen kommen als ich. Eigene Gedanken haben, das halte ich für wichtig im Dialog- und Erneuerungsprozess meiner katholischen Kirche. Es gibt nicht den „Einheitschristen" von der „Stange". Es gibt verschiedene Möglichkeiten, im Geiste Jesu, im Geist der Freiheit und der Liebe als Christ zu leben. Eigene Gedanken haben, das halte ich für wichtig im ökumenischen Bemühen auf dem Weg zur Einheit der Christen. - Wichtig aber auch für das Gespräch mit anderen Religionen. Wer eigene Gedanken hat, der ist offen und kann lernen, lernen von der Stärke der anderen Religion, von ihrer Besonderheit und Andersartigkeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13028
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