SWR1 3vor8

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- Passionsgeschichte in den Evangelien

Es ist ein faszinierendes Bild. Ich stand lange davor. Da wird ein hilfloser Mensch, der aus eigener Kraft nicht mehr gehen kann, von einem anderen über die Schultern gelegt und getragen. Es ist eine Art „Steinrelief". So jedenfalls erinnere ich mich an das Bild. Es stammt aus dem 12. Jh. und befindet sich in der Basilika St. Madeleine in Vézelay in Burgund. Wenn man es genauer anschaut, entdeckt man etwas Besonderes. - Die Vorderseite zeigt, wie sich Judas, ein Jünger Jesu, mit einem Strick erhängt.  Das entspricht der Botschaft der Evangelien im Neuen Testament. Davon ist heute, am Palmsonntag, in den katholischen Gottesdiensten zu hören. Nachdem er Jesus „verraten" hatte - wie es dort heißt - hatte Judas keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Die Evangelien tun sich offensichtlich schwer mit dieser tragischen Gestalt an der Seite Jesu. Warum sich Judas das Leben nimmt, bleibt im Dunkeln. Doch mit diesem Ende wollte sich der Künstler von Vézelay nicht zufrieden geben. Und so hat er in großer künstlerischer und gläubiger Freiheit diese tragische Judasgeschichte weiter geschrieben. Auf der Rückseite des Reliefs legt sich Jesus den toten Judas über die Schultern und trägt ihn als der „Gute Hirte" zurück zu den Seinen. Diese Szene zeigt, dass sich Jesus zu keiner Zeit veranlasst sah, sich von Judas zurückzuziehen, ihn von seiner Zuneigung auszuschließen. Ein starkes Bild und was für eine Botschaft! - Es bleibt nicht bei der Verzweiflung und beim Strick. Da ist einer, der die Last des Unerträglichen mit trägt und aushält. Was für eine Barmherzigkeit! Was für eine Liebe! Eben: das „Erkennungsmerkmal" Jesu. Mit seiner Botschaft - in Stein gemeißelt - trifft der Künstler mitten hinein ins Zentrum der biblischen, der christlichen Botschaft. Und diese Botschaft zeigt Barmherzigkeit - innerhalb und außerhalb der Kirche. Sie lädt ein zu einer Kultur der Vergebung, die nicht nachträgt, verurteilt und ausschließt, sondern einen Neuanfang möglich macht. Diese Botschaft könnte auch ein „Erkennungszeichen" sein für eine glaubwürdige und überzeugende Kirche. Da ist Jesus, der den Judas - der sich selbst getötet hat - vom Baum holt und über den Schultern trägt. Ich hoffe: Für alle, die unter einer solchen Situation leiden und sich schuldig fühlen - eine ungemein tröstliche Botschaft.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12808
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