Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Gibt es eigentlich ein Leben vor dem Leben? Es ist doch interessant, dass die Zeit vor unserer Geburt in philosophischen oder theologischen Debatten keine Rolle spielt. Stattdessen wird immer nur hitzig über das Leben nach diesem Leben hier diskutiert. Ich habe gerade zwei Bücher gelesen, in denen es auch mal um das Leben vor dem Leben geht. Das eine ist von einem amerikanischen Psychoanalytiker, der nicht gläubig ist. Für ihn sind beide Seiten jenseits unseres Lebens schwarze Nacht. Für ihn kommen wir aus einem schweigenden Nichts und gehen auch wieder dahin. Der andere ist Rainer Maria Rilke. In einem seiner Gedichte schaut er auch auf die Zeit vor unserer Geburt und sagt: „Gott spricht zu jedem nur eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht."     Auch bei Rilke befinden wir uns vor diesem Leben in einer Art Dunkelheit, aber in einer bergenden, schützenden Dunkelheit, in einem vertrauten Gespräch mit Gott. Der dann, wenn wir in dieses Leben treten schweigt, aber bei uns ist in dieser Sehnsucht, die nie zu stillen ist. „Geh bis an deiner Sehnsucht Rand", schreibt Rilke und meint wohl dass wir dann dort Gott spüren werden. Oder im Leben - in seiner Schönheit und seinem Schmerz. Überall im tiefen gelebten Leben sei er zu spüren. „Lass dich von mir nicht trennen", schreibt Rilke, und meint den zu seinem Geschöpf sprechenden Schöpfer vor der Geburt seines Geschöpfes. „Nah ist uns das Land, das sie Leben nennen, du wirst es erkennen an seinem Ernste" sagt Rilke. Das ist schön, anspruchsvoll und weise. Und er hat recht! Immer wenn das Leben tief, intensiv wird, wird es auch ernst. In der Liebe, der Geburt, dem Tod. In der Freude und im Schmerz. Überall dort geraten wir in den Grenzbereich Gottes. In eine Sphäre von heiligem Ernst. Und es ist so passend wie schön, dass das Gedicht von Rilke mit diesem schlichten Satz endet: „Gib mir die Hand!" Ein wunderschönes Bild für unsere Sehnsucht nach Gott, von dem wir kommen, nach dem wir hier in dieser Welt sehnsuchtsvoll unsere Hand ausstrecken. Und zu dem wir, so hoffe ich, einmal wieder heimkehren werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12716
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