Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den Tag hängen".
Diesen Satz hat Etty Hillesum an einem Sonntagmorgen in ihr Tagebuch geschrieben. Obwohl sie allen Grund gehabt hätte, ihre Sorgen als Schwergewichte zu empfinden. Etty Hillesum war Jüdin. Sie lebte in Amsterdam zur Zeit der nazideutschen Besatzung. Wie gefährlich das für die Juden ist, war ihr klar.
Aber sie will auch unter Lebensgefahr nicht aufhören, Mensch zu sein. Sie will leben und lieben. Sie will das Essen genießen und die Natur und die Männer. Trotz aller Gefahr.
In ihrem Sonntagmorgengebet schreibt sie:
Ich will meine Sorgen nicht wie Gewichte an den jeweiligen Tag hängen.
Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst.
Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott.
Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen...
Ich werde allmählich wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir.
Ich werde in der nächsten Zeit noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen. (vom 12. Juli 1942)
Diese Gedanken beschäftigen mich sehr. Dass Gott uns Menschen braucht. Und dass unser Ringen um Vertrauen und Zuversicht, unsere Fragen und unsere Gebete Gott in die Welt ziehen. Man spürt ja nicht immer, dass Gott da ist. Besonders dann nicht, wenn es einem schlecht geht. Aber wie macht man das, Gott in die Welt ziehen? Etty Hillesum hat es gemacht wie Psalmbeter der Bibel. Sie hat nicht aufgehört, nach der Verbindung zu Gott zu suchen. Sie hat gebetet, geklagt, gedankt, geschrieben, sich für andere eingesetzt. So hat sie Gott daran gehindert, sie zu verlassen. . Oder vielleicht auch so: durch ihre Gespräche mit Gott hat sie sich selbst daran gehindert, sich von Gott verlassen zu fühlen.
Ob das ein Weg ist auch für Sie und mich, wenn wir heute Morgen mit lebensbedrohenden Sorgen aufgewacht sind? Dass Gott sich von uns ins Leben ziehen lässt und dass auch wir etwas dazu tun können, dass wir uns nicht ganz und gar von Gott verlassen fühlen müssen?

Etty Hillesum, Das denkende Herz, S.149.
Als Etty Hillesum vor ihrem Abtransport ins Konzentrationslager Auschwitz ihrer Freundin ihre neun eng beschriebenen Tagebuchhefte gab, da hatte sie selbst das Gefühl, diese Gedanken könnten anderen Menschen helfen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12667
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