Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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06MRZ2012
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Das Mädchen war total konzentriert. Die Welt um sie herum schien für sie schon gar nicht mehr zu existieren, so sehr war sie bei der Sache. Der Glanz der kleinen Kerze in ihrer Hand flackerte auf ihrem Gesicht. Tropfen für Tropfen ließ sie das Wachs aufs Papier fallen und gestaltete so ein Kreuz. „Schön, oder?", fragte sie mich stolz. Es war schön, sie so fröhlich und gut gelaunt zu sehen. Das war beileibe nicht immer so. Ihre Familie war  ein so genannter „Sozialfall". Der Vater war abgehauen, die Mutter war arbeitsunfähig und hatte eine Betreuerin. Alexandra war das älteste Kind und musste mit anpacken, wo es ging. Manchmal ging es ihr sichtlich schlecht. Sie, die ausdrücklich nicht religiös erzogen wurde, machte ein Kreuz und fand es toll. „Gefällt's dir so?", frage sie mich. Ich nickte. Von meinem Nicken ermutigt, griff sie zu einer Kerze mit anderer Farbe, zündete sie an und ließ weitere Wachstropfen auf das Papier fallen. „Jetzt mach ich den Jesus", sagte sie. Ich war neugierig. Ich hätte gern gewusst, für wen sie Jesus hält. Über ihn gesprochen hatten wir schon oft, auch darum, weil sie immer wieder wissen wollte, warum ich ein Kreuz an der Wand hängen hatte. Jedes Mal fragte sie mich das. Jedes Mal gab ich Antworten, von denen ich dachte, dass sie damit nun zufrieden sei. Aber dann kam sie beim nächsten Mal wieder mit der Frage, wer Jesus sei und warum man ihn gekreuzigt habe, und warum die „Kreuziger" nicht von der Polizei verhaftet und bestraft wurden. Man dürfe ja nicht einfach einem Menschen wehtun. „Und wenn Gott sein Vater war, warum hat er dann seinen Sohn hängenlassen?" Sie überlegte kurz und fügte traurig hinzu: „Oder ist sein Vater auch mit einer anderen abgehauen?" Ich war bewegt von ihren Fragen, in denen sich ihr eigenes Leben widerspiegelte. Sie wartete nicht auf meine Antworten, sondern nahm sich das Blatt und die Kerze wieder vor und tropfte ihr Kruzifix weiter. Immer mehr Wachs ließ sie auf das Papier tropfen. Aber irgendwann war es zu viel Wachs, es kühlte nicht mehr so recht ab. Die Wachsfarben verliefen ineinander. Als auf dem Blatt dann nur noch ein undefinierbarer Wachsfleck zu sehen war, verfinsterte sich ihr Gesicht. Passend dazu blies sie jäh die Kerze aus. Ich erwartete einen Fluch von ihr, so wie es manchmal aus ihr rausbrach, wenn sie eine Schulaufgabe nicht verstand und sich dumm fühlte. Aber nun wurde sie einfach nur still, starrte auf das vor ihr liegende Blatt mit dem Wachsflecken und sagte leise: „Is' nix geworden mit Jesus." Und ich hatte ein Gefühl wie Karfreitag. Ich wünsche Ihnen Begegnungen, die sie berühren und stärken.

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