Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Die Welt, sagt man, ist ein Dorf. Gut, dann nehmen wir diese Redensart doch einfach mal beim Wort: Stellen Sie sich vor, die ganze Weltbevölkerung wäre tatsächlich ein Dorf mit sagen wir mal 100 Einwohnern. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, welches Volk und welche Gruppe von Menschen wie groß ist, dann kommt man auf folgende Verteilung: In unserem Welt-Dorf mit 100 Seelen leben 57 Asiaten, 21 Europäer, 14 Amerikaner und 8 Afrikaner. 52 sind Frauen und 48 Männer. 30 sind weiß, 70 haben eine andere Hautfarbe. Gleich viele, nämlich ebenfalls 70 sind Nicht-Christen und 30 Christen. 80 von den 100 Einwohnern leben in ungeeigneten oder viel zu kleinen Unterkünften. Ganze 6 Personen besitzen 59 % des gesamten Reichtums. Von den hundert Dorfbewohnern sind 70 Analphabeten. Und 50 leiden an Unterernährung, also genau die Hälfte. Einer wird heute geboren und einer liegt im Sterben. Einer besitzt einen Computer, und einer hat einen Universitätsabschluss. Und ich, wo gehöre ich hin? Wo ist mein Platz in diesem Welt-Dorf? Ich bin eine weiße, europäische Christin, musste noch nie hungern, lebe in einer ordentlichen Wohnung, kann lesen und schreiben. Ich habe einen Computer und einen Universitätsabschluss. Und noch einiges andere, das von dieser Statistik nicht erfasst wird. Damit bin ich ganz schön privilegiert. Das wusste ich natürlich schon lange, aber mit dem Modell vom Hundert-Seelen-Dorf rückt mir dieses theoretische Wissen ganz anders auf die Pelle. Für mich ist dieses Modell wie ein Dolmetscher: Es übersetzt Statistiken in Schicksale, Zahlen in Menschen, in Menschen mit Gesichtern. Fremde werden so auf einmal zu Nachbarn, weil sie letztlich doch alle im selben Dorf leben. Und ich mittendrin. In diesem Dorf mit dem Namen "Welt". Eigentlich hätte ich Lust, sozusagen mal rüberzugehen zu diesen ‚Welt-Nachbarn'. Ich würde sie gern kennen lernen und mich vorstellen. Ich würde ihnen gern sagen, dass hier im Dorf alle einander aushelfen und dass sie immer kommen können, wenn sie mal Hilfe brauchen, auch zu mir. Nein, ich tu's natürlich nicht, weil es nicht stimmt. Aber es muss ja nicht für immer so bleiben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12511
weiterlesen...