Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich trank meinen Morgenkaffee und ahnte nichts Böses.
Es klingelte. Ich ahnte noch immer nichts Böses.
Der Briefträger brachte mir ein Schreiben.
Nichts Böses ahnend, öffnete ich es.
Es stand nichts Böses darin.
Ha! rief ich aus. Meine Ahnung hat mich nicht betrogen.

Zugegeben, es gibt anspruchsvollere Gedichte. Und doch bin ich einfach nur hingerissen von diesen sechs Zeilen. Geschrieben hat sie der Schriftsteller Erich Mühsam. Der hat offensichtlich was verstanden von den Widrigkeiten des Lebens und den Tücken des Alltags. Und - von den Tricks, die unsere Seele erfindet, um damit irgendwie klarzukommen. 

Einer dieser Tricks heißt: Erwarte grundsätzlich das Schlimmste. Was auch immer kommt, es wird schon schiefgehen. Eigentlich eine geniale Strategie: Wenn ich nichts Gutes erwarte, kann ich auch nie enttäuscht werden. Und Enttäuschung ist ja nicht unbedingt das, was ich haben muss. Es ist bestechend einfach, aber es hat auch einen Haken. Denn meine negative Erwartung kann sich sozusagen selbständig machen. Und am Ende zieht sie mich hinter sich her, wie ein großer Hund, der nicht gelernt hat zu folgen, sein Herrchen hinter sich herzieht und selbst bestimmt, wo's langgeht. Und das will ich nicht. Ich will nicht, dass meine enttäuschenden Erfahrungen meine Erwartung bestimmen. Es wäre auch unfair. Denn wenn ich mein Leben so anschaue, kann ich wirklich nicht sagen, dass die schlechten Erfahrungen überwiegen. Ganz im Gegenteil: Mit kühlem Kopf weiß ich, dass ich insgesamt viel mehr Glück gehabt habe als Pech, bisher jedenfalls. 

Der Schriftsteller mit dem bezeichnenden Namen Mühsam hatte es nicht so gut wie ich. Als Jude und politischer Aktivist wurde er nach der Machtergreifung der Nazis eingesperrt und schon 1934 auf brutalste Weise ermordet. Von hinten betrachtet hätte er also allen Grund gehabt, den schlimmen Ahnungen des Lebens mehr zu trauen als der Erwartung, dass das Leben oder der es gegeben hat, gut ist und es gut mit uns meint. Und doch hat gerade er uns dieses zauberhafte Gedicht, dieses Kabinettstück der Lebenskunst, hinterlassen. Ich finde, auch dafür sollten wir ihn nicht vergessen, den Erich Mühsam, mit seinem tragischen Leben und den ironisch-leichten Versen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12509
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