Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Sie begleitet mich seit einigen Monaten. Die Gnade. Ein großes Wort. Viele Jahre habe ich es nicht benutzt, nicht beachtet. Dann ist es aufgetaucht in einer Lebenskrise. Ich bin lebenstüchtig und habe ein stabiles Fundament. Das ist gut so. Aber es verführt mich daran zu glauben, dass ich mein Leben im Griff habe nach dem Motto "Jeder ist selbst seines Glückes Schmid". Stimmt ja auch - teilweise auf jeden Fall. In dieser Krise war ich angewiesen auf Hilfe und vielleicht deshalb auch offener dafür, mir helfen zu lassen. Meine Sommerferien, die langfristig und gut geplant waren, sind letztes Jahr kurzfristig ins Wasser gefallen. Wenige Tage später war ich unterwegs auf dem Pilgerweg nach Santiago. Dass ich auf beiden Beinen stehe, hat mir sehr geholfen. In kurzer Zeit habe ich gepackt und eingekauft, was ich gebraucht habe. Schnell habe ich verstanden, was ich im Voraus für den Weg planen muss. Dann bin ich mit Sack und Pack im Zug gesessen, mir gegenüber ein junger Mann mit seinem Rucksack, die Wanderstiefel oben drauf. Wahrscheinlich auch ein Pilger, hab ich gedacht aber lieber erst mal nichts gesagt. In der Stadt angekommen, in der ich loslaufen wollte, war ich unterwegs zum Touristenbüro. An einer Kreuzung bin ich dem jungen Mann aus dem Zug zufällig wieder begegnet und wir haben dann auch ein paar Worte gewechselt. Wir haben uns einen guten Weg gewünscht und sind weitergegangen, jeder in eine andere Richtung. Am Abend, auf der Suche nach etwas zu essen, war ich alleine unterwegs. Ich habe mich einsam und traurig gefühlt. Jetzt würde es mir gut tun, mit jemanden zu sprechen, hab' ich gedacht. Manche werden es kitschig nennen, andere Zufall, was dann passiert ist. Für mich war es Gnade als der junge Mann aus dem Zug zum dritten Mal an diesem Tag plötzlich vor mir gestanden ist. Wir waren beide alleine, haben uns ehrlich gefreut, sind gemeinsam essen gegangen und haben uns erzählt, warum wir unterwegs sind. Dicht, schonungslos offen haben wir uns vertraut - zwei Fremde. Das war eine von vielen Gnadengaben seitdem. Gnade ist ein „Kürzel", das all das zusammenfasst, was Gott dem Menschen an Zuwendung, Liebe und Lebenserfüllung schenkt, lese ich in einem Lexikon. Sprachwissenschaftler sagen, dass Gnade ursprünglich bedeutet „um Hilfe bitten". Ich denke, beides gehört zusammen. Nur wenn ich weiß, dass ich in meinem Leben nicht alles selbst machen kann, bin ich offen dafür, mich beschenken zu lassen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12349
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