SWR4 Sonntagsgedanken
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Neugierig kaufte ich vor Wochen ein Buch mit Weihnachtserzählungen von Agatha Christie, der berühmten Autorin von Kriminalromanen. Gleich die erste Geschichte faszinierte mich so, dass ich sie Ihnen weiter erzählen möchte.
Der Beginn ist idyllisch: Maria, die Mutter Jesu, ist mit ihrem Kind allein im Stall von Bethlehem. Plötzlich rauschen Flügel und in blendendem Licht steht ein unsagbar schöner Engel da. Sein Angebot: Maria darf mit seiner Hilfe in die Zukunft des Kindes sehen. Freudig stimmt sie zu. Zuerst sieht sie in einen Garten, in dem ein Mann betet. Es ist ihr Sohn, also ist er ein guter, frommer Mensch geworden . Dann aber schreit sie entsetzt auf: Dieser Mann windet sich in Todesangst , und sein verzweifeltes Gebet bleibt ohne Antwort: Seine Freunde schlafen und lassen ihn allein. .
Beim nächsten Blick in die Zukunft sieht Maria drei Männer auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung am Kreuz. Sie glaubt an einen Irrtum, als sie in einem der drei ihren Sohn erkennen muss. Doch dann gibt es keinen Zweifel mehr: Sie sieht ihn qualvoll am Kreuz hängen und hört seinen Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Irgendwo ertönt die Stimme des jüdischen Hohepriesters: „Dieser Mann hat Gott gelästert."
In die Gegenwart zurückgekehrt, reagiert Maria verzweifelt: „Mein kleines, hilfloses Kind, was kann ich tun, um (...) dir das zu ersparen, was da kommen wird?" Nun redet der blendend schöne Engel - und was er sagt, ist ungeheuerlich. Maria darf über Leben und Tod ihres Kindes entscheiden. In ihrer Hand liegt es also, ob ihr Sohn diesen Erdenweg mit seinem furchtbaren Ende antreten oder ob ihn der Engel unversehrt zu Gott zurücktragen soll. Was wird Maria wählen? Die junge Frau aus Nazaret verhält sich erstaunlich: Entgegen ihrem ersten Reflex, ihr Kind um jeden Preis vor allem Übel zu bewahren, denkt sie nach und ruft sich die gesehenen Bilder noch einmal zurück. Da entdeckt sie: Von Jesus, dem leidenden Sohn, geht in diesen Szenen eine große Kraft aus: die Kraft der Liebe. Mit Trauer, aber auch mit Verständnis blickt er auf seine Gefährten, die ihn in der höchsten Not so allein lassen. Seine Liebe strahlt aus und verwandelt die Menschen , so auch einen der Mitgekreuzigten. Dem qualvollen Tode nahe sieht er Jesus mit Vertrauen, Bewunderung und Zuneigung an - wie ist das zu erklären?
Und die Mutter erkennt: Ihr Sohn ist kein Verbrecher, sondern von ihm geht ein Licht aus, das von Gott kommt.
So weigert sich Maria, ihr Kind dem Engel zu übergeben. Nein, es soll weiter leben, auch wenn ihm Leiden und Tod bevorstehen. „Da Gott ihm das Leben gegeben hat, ist es nicht an mir, ihm dieses Leben zu nehmen." Ein Blitzstrahl flammt auf und der Engel verschwindet - in Hochmut und Zorn. Es war Luzifer, der Satan, der große Versucher, der Widersacher Gottes.
Von der Kriminalautorin Agatha Christie stammt eine Erzählung, die es in sich hat. Ein Engel - in Wirklichkeit ist es der Satan - lässt Maria, die Mutter des kleinen Jesus, in die Zukunft ihres Kindes schauen. Als Maria das Leiden ihres Sohnes bis hin zum Kreuz erkennen kann, nutzt der Engel ihr Entsetzen aus für ein teuflisches Angebot: Sie darf wählen, ob ihr Kind dieses Schicksal erleiden oder lieber vorher sterben soll. Maria widersteht der Versuchung und entscheidet sich für das Leben des Kindes.
Kindern möglichst Leid zu ersparen ist wohl der natürliche Wunsch aller Eltern. Vor einiger Zeit sagte eine Mutter zu mir: „Heutzutage würde ich keine Kinder mehr in die Welt setzen! Sehen Sie sich doch um: eine kaputte Natur, Kriege, Terrorismus. Das kann man doch keinem mehr zumuten!" Ganz offensichtlich aber w i r d uns Menschen solches zugemutet, wenn auch in unterschiedlicher Härte und Dauer. In unserer Geschichte ist es Maria, die diesen Tatbestand erkennt und anerkennt - auch für ihr geliebtes Kind. Stärker als der Schmerz darüber, dass ihr Sohn leiden muss, ist ihr Vertrauen auf Gott, der das Ganze in seiner Hand hält. „Es ist nicht an mir, (...) den hohen Ratschluss Gottes zu verstehen", sagt sie zu dem satanischen Engel. „Es mag sein, dass ich nur einen Teil eines Bildes gesehen habe und nicht das ganze."
Mir scheint, dieser Vergleich trifft sehr genau auf unsere menschliche Wahrnehmung zu: Was wir von uns selbst und über die Welt wissen, ist immer stückhaft und unvollkommen. So erkennen wir manchmal auch erst im Nachhinein, dass diese oder jene bittere Erfahrung ihren Sinn hatte, dass sie uns reifer und verständnisvoller gemacht hat. Allerdings gibt es Schicksale, vor denen solche Behauptungen verstummen müssen, weil es nur noch ums Aushalten geht. Das Evangelium, die Frohbotschaft von Jesus, hat auf das Leidensproblem keine schlüssige Antwort. Jesus hatte die umstürzende Erfahrung gemacht, dass Gott ganz nahe und die Liebe selbst ist. Er gab diese Liebe weiter an alle, die ihm begegneten, auch denen, die von den Machthabern ihrer Zeit nicht akzeptiert wurden. Darum musste er selbst leiden und sterben.
Auch für gläubige Menschen bleibt die Frage nach dem Warum des Leidens theoretisch ungelöst. Die einzige, aber auch nie überholte „Antwort" ist die Praxis der Liebe. Die Mutter, die tröstet, der Partner, der die Hand des Kranken hält, der Arzt, der unentgeltlich einen Slumbewohner behandelt - - sie alle folgen dem Weg Jesu, auch wenn sie es nicht wissen.
Die Erzählung von Agatha Christie endet mit dem Freudenruf der einfachen Leute von Bethlehem, die den kleinen Jesus von Hand zu Hand reichen: „Seht, (...) er liebt uns alle. Noch nie hat es solch ein Kind gegeben..."
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