Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Irgendwann ist man es satt, immer getragen zu werden." Mit einem tiefen Seufzer spricht mein Gegenüber diesen Satz aus. Mein Gegenüber ist eine junge selbstbewusste Frau im Rollstuhl. Und sie weiß wovon sie redet. Ihr ganzes Leben ist sie getragen worden. Ihre Eltern trugen sie in der Wohnung herum. Die Erzieherinnen im Kindergarten trugen sie von der Spielecke zum Sandkasten und wieder zurück. Selbst von den Lehrern am Gymnasium wurde sie die Treppe zum Physiksaal hoch und runter getragen. Und man merkt ihr heute noch an, wie peinlich ihr dies als junges Mädchen war, besonders wenn sie von Lehrern getragen wurde, die sie gar nicht mochte.
Sie kann sich recht gut allein fortbewegen, vorausgesetzt ein Aufzug oder eine Rampe ist vorhanden und die Türen sind breit genug. Ich wollte sie zu einer Veranstaltung in unsere kirchlichen Räume einladen. Sie hat mich nach einem Aufzug oder einer Rampe gefragt. Und die gibt's bei uns nicht. Ich bot ihr an, sie mit einigen Leuten im Rollstuhl die Treppe hoch zutragen. Und das lehnte sie mit diesem Seufzer ab: „Irgendwann ist man es leid, immer getragen zu werden!" Erst hielt ich sie für stur und versuchte sie zu überreden. Doch im Laufe des Gespräches konnte ich sie immer mehr verstehen.
Denn wenn ich ehrlich bin, auch mir fällt es viel leichter jemanden zu tragen als selbst getragen zu werden. Es ist mir lästig, auf andere angewiesen zu sein, ich möchte mich frei und unabhängig von anderen bewegen können. Behinderten geht es da nicht anders. Deshalb sind Rampen, Aufzüge und breitere Türen kein Luxus, sondern bedeuten für Rollstuhlfahrer mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Heute ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Die UNO hat ihn ausgerufen, um auf die Probleme Behinderter aufmerksam zu machen und für ihre Rechte einzutreten. Am besten mit dem Bau von Rampen und Aufzügen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12010
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