SWR4 Abendgedanken BW

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„Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist." An diesem Satz, den Goethe einmal formuliert hat, ist sicher viel dran. Mit freundlichem Gruß beende ich einen Brief. Dabei möchte ich dem Empfänger ganz anders begegnen. Freundlich grüßen möchte ich ihn auf keinen Fall. So harmlos ist also die Höflichkeit nicht, und vor allem hat sie etwas mit der Wahrheit zu tun. Darum fällt es oft nicht leicht, zugleich wahrhaftig zu sein und  die Formen der Höflichkeit zu wahren. Und oft kann ich es nicht vermeiden, andere zu verletzen.
Wenn ich höflich bin, bedeutet das auch immer, dass ich den anderen ernst nehme und ihn achte. Ja, wenn ich anderen höflich begegne, will ich sie nicht verletzen, ich will sie so ernst nehmen, wie mich selbst. Darum fällt es mir zum Beispiel schwer, im Hausflur stehen zu bleiben und der Nachbarin zuzuhören, weil ich weiß dass mich das jedes Mal wieder viel Zeit kosten wird. Höflich zu sein und zugleich bei der Wahrheit zu bleiben, das ist gar nicht leicht. Manchmal fällt mir nur eine gewundene und verlegene Antwort ein, wenn ich von einer lieben Verwandten ein Geschenk erhalten habe und Wochen später gefragt werde, ob es mir gefalle. Dabei habe ich es längst in die hinterste Ecke gestellt.
Höflichkeit drückt sich in meinen Gedanken und in meiner ganzen Haltung anderen gegenüber aus. Besonders aber mein Reden, meine Worte sind es, die höflich oder unhöflich, wahrhaftig oder nicht wahrhaftig sind. „So ist die Zunge ein kleines Ding und richtet doch große Dinge an, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet es an."  So lese ich es in dem kurzen Jakobusbrief in der Bibel.  Die Zunge soll aber, so fährt der Verfasser fort, nicht Übles und Giftiges von sich geben und gleichzeitig Gott loben. Sondern sie soll eindeutig sein, so wie aus einer Quelle nicht gleichzeitig süßes und bitteres Wasser fließen kann.
Man muss nicht lügen, wenn man höflich ist. Höflichkeit ist auch mehr als ein Luftkissen, in dem zwar nicht mehr als Luft enthalten ist, das aber manche Stöße mildert. Da ist viel mehr drin. Vor allem warnen die Worte des Jakobusbriefs mich davor, etwas zu sagen, was andere nicht verstehen können oder was sie gar verletzt. Die Achtung und Liebe, wie ich sie mir selber wünsche, soll ich auch anderen gegenüber wahren. Verbunden mit dem Wunsch, wahrhaftig zu bleiben, auch wenn das manchmal schwer ist. Darum kann ich einen Brief mit einem freundlichen Gruß abschließen, auch wenn ich davor meine Haltung ehrlich und offen dargelegt habe. Ich glaube, dann kann ein freundliches Verhältnis zu anderen erhalten bleiben, das für ein gutes Zusammenleben wichtig ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11978
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