SWR2 Wort zum Sonntag

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Darf man für etwas verurteilt werden, das man nicht getan hat? Die Frage scheint auf den ersten Blick absurd und die Antwort eindeutig: natürlich nicht. Umso überraschter erscheinen die Verurteilten in der großen Erzählung Jesu vom Endgericht, die uns gegen Ende des Matthäus-Evangeliums überliefert ist und die heute am Christkönigsonntag in den katholischen Kirchen verlesen wird. Da heißt es: „Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet." (Mt 25, 31f) Gott spricht das letzte Wort über uns Menschen. Dann aber kommt das Überraschende. Die Guten werden nicht wegen außergewöhnlich großer Taten belohnt. Sie sind überrascht, weil sie das für sie Selbstverständliche mitten im Alltag getan haben: sie haben Hungrigen zu essen gegeben, Durstigen zu trinken, Fremden und Obdachlosen geholfen, Kranke besucht... Sie waren barmherzig um der Barmherzigkeit willen, nicht wegen eines Lohnes. Nun sind sie überrascht, welche Bedeutung ihr Handeln hat. Sie haben Liebe um der Liebe willen geübt. Genauso überrascht erscheinen die Verurteilten. Sie werden nicht, wie man angesichts eines Welt- und Endgerichtes erwarten kann, wegen ihrer schrecklichen, zum Himmel schreienden Taten verurteilt, sondern überraschenderweise wegen ihrer nicht begangenen Taten. „Ihr habt mich nicht gespeist, getränkt, bekleidet, besucht und aufgenommen." Dies erinnert an die Gleichniserzählung vom barmherzigen Samariter, die wir im Lukas-Evangelium finden. Auch hier wandelt Jesus die Perspektive radikal. Zunächst wird Jesus nach dem wichtigsten Gebot gefragt, und er antwortet mit dem doppelten Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe. In dem anschließenden Gleichnis illustriert Jesus dieses Gebot der Liebe: Ein Mann fällt unter die Räuber. Beraubt und verletzt liegt er am Wegesrand - und nur der Samariter bleibt stehen und nimmt sich seiner an. Daraufhin macht Jesus die  Opferperspektive zum alles entscheidenden Urteilsmaßstab: „Wer von all denen, die vorbeigegangen sind, hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der unter die Räuber gefallen ist?", fragt er (Lk 10,36) Aus der Opferperspektive wird auch das Nichthandeln zur Straftat. Wer mitleidlos und untätig vorbeigeht, ist nicht unschuldig. Dieser zutiefst christliche Gedanke hat in dem Strafbestand der unterlassenen Hilfeleistung bis heute Eingang in unsere Gesetzesbücher gefunden. Der Vorrang der Opferperspektive ist bis heute ein wesentliches Kennzeichen humaner Gesellschaften und ein wertvolles christliches Erbe, das in unsere säkularisierte Kultur eingegangen ist. Die ganze Lehre Jesu macht diese Solidarität Gottes mit den Schwachen zum Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte und damit zu einer neuen Geschichtsschreibung. Hier binden sich christlicher Glaube und gesellschaftliche und politische Weltverantwortung ineinander. Der echte Glaube kreist nie nur um sich selbst. Er sucht den Anderen und findet darin das Geheimnis Gottes. Wem die Einfühlung in die Not des Nächsten fehlt, dem erschließt sich das Große der Gottesherrschaft nicht. Dessen Taten sind letztlich vor Gott und der ganzen Menschheit fruchtlos, weil er das Entscheidende im Zusammenhang übersehen hat: „Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan." So vollzieht sich das große Weltgericht ständig im Kleinen des Alltags mitten in unseren liebenden Aufmerksamkeiten für die anderen, mitten in unserer Bereitschaft, uns anrühren zu lassen durch die Not anderer, mitten in unserem Willen, uns für die Gerechtigkeit einzusetzen. Dazu brauchen wir beständige Umkehr unserer gesamten Lebens- und Weltsicht gemäß der Leitfrage Jesu: „Wer hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der unter die Räuber gefallen ist" und „Was ihr einem meiner Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan". Wie anders sähe unsere Welt aus, wenn diese Perspektive überall der leitende Maßstab wäre?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11973
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