Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Heute am Martinstag sind sie wieder unterwegs - die Kinder mit ihren Laternen, die den Novemberabend erhellen.
Meine Kinder lieben die Legende und sie können sie bis ins Detail erzählen: Wie der Soldat Martin hoch zu Ross durch den kalten Winterabend reitet, warm bekleidet mit seinem dicken Soldatenmantel, wie der arme Bettler auf der kalten Erde am Stadttor sitzt, nur mit Lumpen bekleidet und alle Menschen achtlos an ihm vorübergehen. Und wie dann Martin vom Pferd springt, mit seinem Schwert den Mantel teilt und dem frierenden Bettler die Hälfte schenkt.
„Mama, warum laufen wir zum Martinsfest eigentlich Laterne? In der Geschichte kommen doch gar keine Laternen vor!" Stimmt! Wir teilen bei den Martinsumzügen ja gar keine Mäntel, wir lassen Lichter leuchten. Aber das ist, glaube ich, auch das Entscheidende an der Martinsgeschichte - und etwas, was wichtiger ist als das Mantelteilen selbst.
Denn so großartig war diese Geste ja nun nicht. Der Bischof Nikolaus hat immerhin sein ganzes Vermögen an die Armen verschenkt - Martin nur die Hälfte seines Mantels. Selbstlos war er also nicht, er hat bei allem Mitgefühl auch an sich gedacht und dafür gesorgt, dass auch er in der kalten Winternacht immer noch warm genug bekleidet war. Ein Realist - dieser Martin. Vielleicht ist er mir deswegen so sympathisch.
Und vielleicht ist das gerade der Charme der Martinsgeschichte. Denn sie zeigt: die Größe und Selbstlosigkeit einer Gabe ist nicht das Entscheidende. Vielleicht hat der halbe Mantel den armen Mann vorm Erfrieren gerettet, vielleicht hat er ihm auch nur ein paar warme Stunden Schlaf beschert - wichtiger ist, dass das Geschenk ihm gezeigt hat: Es gibt einen Menschen, der sich um dich sorgt. Es gibt jemanden, für den Du ein Mensch bist, der es wert ist, dass man sich um ihn kümmert. Und damit - nicht mit dem Geschenk selbst - hat Martin ein Licht im Herzen des Bettlers angezündet.
Ob der Mann sich lange an diesem Gefühl wärmen konnte? Vielleicht - vielleicht auch nicht. Aber davon, wie lange eine liebevolle Geste nachwirkt, darf man ihren Wert nicht abhängig machen, denke ich. Schließlich kann auch eine kleine Geste Schule machen. Auch das zeigt die Martinsgeschichte. Andere sind dem Beispiel Martins gefolgt, viele haben das Licht weitergegeben - immer wieder - bis heute.
Heute Abend brennt es wieder - das Hoffnungslicht in den Laternen der Kinder. Die Geschichte von Martin zeigt: es genügen schon kleine Gesten, um das Licht weit in die Welt leuchten zu lassen - und solche kleinen Gesten braucht es nicht nur am Martinstag!

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