Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Irgendwie werden sie mehr, finde ich: Die Bettler in den Fußgängerzonen. Aber vielleicht nehme ich sie jetzt auch nur mehr wahr. Vielleicht weil ich mich jetzt mehr darüber wundere, wie jemand stundenlang in der Kälte stehen und die Leute um Geld anbetteln kann.
Klar hätte ich ein paar Euros in der Tasche, die ich abgeben könnte. Ich spende eigentlich gerne. Aber in der Fußgängerzone bin ich unsicher, ob mein Mitleid wirklich nötig ist. Der Mann mit dem Hund, könnte sich doch vom Amt sein Tagesgeld holen! Und die osteuropäisch aussehende Frau mit dem Baby - die gehört doch bestimmt zu einem organisierten Bettelring, oder?
Ich will gerade mit schnellem Schritt einem bettelnden Obdachlosen ausweichen, da werde ich ausgebremst. Ein Jugendlicher -  vielleicht 15/16 Jahre alt, bleibt vor dem Mann stehen und drückt ihm einen Euro in die Hand: „Hier für dich!" Sein Freund spottet: „Wenn Du Geld übrig hast - ich nehm's wohl!" „Du kapierst nichts", sagt der Jugendliche, „es geht nicht ums Geld. Geld kriegt der vom Amt. Aber da ist es anonym und Helfen darf nicht anonym sein. Ich finde: Jeder bei uns müsste verpflichtet werden, anderen zu helfen - ganz persönlich."
Ich komme ins Nachdenken. Hat der Junge Recht? Es ist doch eine große Errungenschaft, dass wir in einem Sozialstaat leben, wo Menschen ohne Betteln eine Grundabsicherung erhalten! Aber es stimmt schon: im den Computersystemen der staatlichen Hilfsstellen verschwinden Menschen hinter Aktennummern. Das Helfen ist anonym - und weit weg von uns. Wer von uns kennt die Menschen hinter den Aktenzeichen? Wer von uns fühlt sich persönlich für sie verantwortlich? Ich glaube, der Junge hat Recht: Das Helfen des Staates darf nicht dazu führen, dass uns die armen Menschen nichts mehr angehen - so nach dem Motto: der Staat sorgt ja schon, was muss ich mich kümmern!
Der junge Mann hat sich gekümmert: Während alle anderen - auch ich - achtlos an dem Obdachlosen vorübergehen wollten, hat er etwas getan - aus dem Gefühl heraus, dass er ganz persönlich verantwortlich ist für diesen Menschen.
Ich glaube: da hat ein kleiner Sankt Martin meinen Weg gekreuzt.
Mit meinen Euros werde ich in der Fußgängerzone jetzt auch nicht großzügiger sein. Aber ich denke, ich könnte einem bettelnden Menschen öfter mal ein Brötchen spendieren oder einen warmen Kaffee - einfach als Zeichen, dass er und seine Not mir nicht egal sind.
Sankt Martins - es gibt sie noch - nicht nur morgen, am Martinstag. Der richtige Martin war übrigens auch erst 16, als er den Mantel geteilt hat, wussten Sie das?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11856
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