Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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04NOV2011
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Es gibt eine Erzählung über den Wanderprediger und Ordensgründer Franziskus von Assisi:
Als Franziskus mit seinen Brüdern wieder einmal ein strenges Fasten hielt, wurde er eines nachts von lautem Rufen geweckt: „Ich sterbe, ich sterbe!", schrie einer seiner Brüder, mit denen er in einer Kapelle übernachtete. Franziskus ging zu ihm und fragte: „Was ist mit dir, Bruder? Warum stirbst du?" Dieser antwortete ihm, dass er das strenge Fasten nicht länger ertragen könne. Der Hunger mache ihn schier verrückt. Franziskus sah ihn an. Dann weckte er die übrigen Brüder und trug ihnen auf, alles Essbare, das sie hatten, zu holen. Da sie gerade fasteten, war es nicht viel, nur etwas Brot und ein paar Früchte, aber Franziskus sagte ihnen, sie sollten alle etwas davon essen. „Aber was ist dann mit unserem Fasten?", fragte einer. Bevor Franziskus antwortete, aß er als erster und reichte auch dem Bruder etwas, der so sehr unter dem Hunger litt. Da überwand der Bruder seine Verlegenheit, nahm von der Speise und freute sich sehr (...). Dann schloss Franziskus mit den Worten: „Brüder, nehmt euch nicht das Essen, sondern die Liebe zum Vorbild!"
(vgl. Bonaventura, Legenda Maior 5,7)

Ich finde diese Haltung des Franziskus großartig.
Da haben sich die Brüder fest vorgenommen, durch strenges Fasten ihren Glauben zu bezeugen und zu vertiefen, und einer von ihnen hält das nicht durch.
Statt ihn zu tadeln, fordert Franziskus alle übrigen auch auf, das Fasten zu brechen.
Sie essen gemeinsam.
Das Entscheidende ist für Franziskus hier offensichtlich nicht das konsequente Durchhalten eines einmal getroffenen Vorsatzes, sondern die Frage, was mich Gott näher bringt.
Der eine Bruder, der keine Kraft mehr zum Durchhalten hat, erlebt eine Gemeinschaft, die ihn nicht maßregelt, sondern auffängt. Die Brüder ersparen ihm die Scham, indem sie mit ihm essen.
Wie gut tun uns Begegnungen mit Menschen, die uns nicht beschämen, wenn wir an unsere Grenzen kommen oder Schwächen zeigen.
Heute habe ich oft den Eindruck, als gelte es, gerade die Schwächen der anderen zu betonen, um meine eigenen Stärken anzupreisen.
Die Haltung eines Franz von Assisi lässt da aufatmen, weil hier der Mensch wichtig ist und Achtung erfährt.
„Die Liebe zum Vorbild nehmen" - das klingt so schön kitschig, typisch für Heiligenlegenden. Aber ich finde, es ist eine treffende Formulierung für das, was Achtung und Respekt anderen gegenüber meint.
Vielleicht ist heute der Tag, genau das einmal auszuprobieren.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11810
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