Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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03NOV2011
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„Eines Tages erhielt ein weiser Mann, der als Einsiedler in einer bescheidenen Klause lebte, Besuch von einem Wanderer. Als dieser die Klause erreichte, war der Einsiedler gerade damit beschäftigt, seine Stube zu fegen. Er lud den Mann ein, sich an den Tisch zu setzen und sich vom klaren Quellwasser zu nehmen, das dort in einem Krug stand. Der Mann dankte, nahm Wasser aus dem Krug und schaute um sich, während der Weise mit Fegen fortfuhr.
Da entdeckte der Mann in einer Ecke der Klause einen Diamanten, der so groß wie die Faust eines Mannes war. Verwirrt blickte der Mann zu dem Diamanten, dann zum Weisen und wieder zum Diamanten. „Mit dem Erlös aus dem Verkauf dieses einzigartigen Diamanten könnte ich meine Schuld bezahlen und meine Familie und mich für immer aus aller Not befreien", dachte der Wanderer. Der Weise bemerkte die Verwirrung und ahnte die Not seines Gastes. Da sagte er, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen, der Mann solle den Diamanten getrost mitnehmen; er brauche ihn wohl dringender als er selbst.
Der Mann zögerte nicht lange, griff nach dem Edelstein und steckte ihn schnell in seinen Beutel. Dann wechselte er noch ein paar freundliche Worte mit dem Weisen und verabschiedete sich.
Nach einiger Zeit, der Einsiedler war gerade wieder in seiner Klause und fegte die Stube, kam der Wanderer zurück. Er sah bleich aus und abgemagert, sein Blick war leer und suchend.
Der Weise hielt inne, begrüßte den Mann, schaute ihn an und fragte, warum es ihm denn nicht besser ginge nach dem Verkauf des Diamanten. Mit dem Geld müsse er doch aller Sorgen ledig geworden sein.
Daraufhin setzte sich der Mann erschöpft an den Tisch, sah mit Verzweiflung in den Augen den Weisen an und sagte: „Ich habe den Stein nicht verkaufen können. Es ging einfach nicht. Hier, nimm ihn zurück", und er legte den Edelstein wieder in die Ecke, von wo er ihn genommen hatte.
„Bitte, heiliger Mann", sagte er dann leise, „lass mich teilhaben an dem Reichtum, der es dir ermöglicht, einen solchen Stein leichten Herzens zu verschenken."
Diese Geschichte erinnert mich an eine Frage, die Jesus seinen Jüngern gestellt hat:
Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? (Mt 16:26)
Ich habe in letzter Zeit viele Menschen getroffen, die genau auf diese Frage ihre eigene Antwort gesucht haben. Menschen, die nach einer Krankheit oder einer Krise ihr Leben neu ausrichten möchten, weil sie erkannt haben, dass materielle Sicherheit allein nicht ausreicht. Menschen, die das Streben nach „immer mehr" krank gemacht hat.
Ich wünsche Ihnen heute Begegnungen, die Sie bereichern, nicht weil sie Ihnen Profit bringen, sondern weil sie Ihnen etwas geben, das nicht käuflich ist: Hoffnung und Freude.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11809
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