Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Da steht er auf vielen alten Brücken, der Märtyrer Johannes (von) Nepomuk. Der „Brückenheilige“ hat jetzt einen Kollegen bekommen, allerdings nicht auf, sondern unter der Brücke: Abbé Pierre, Kapuzinermönch, Priester und Frankreichs „Vater der Clochards, Vater der Obdachlosen“. Er starb im Alter von 94 Jahren im Januar (22.01.2007) in Paris. Auf die Todesnachricht reagierten die französischen Medien mit Sondersendungen und Extraseiten. Allen gemeinsam war der Leitgedanke: „Eine Sonne ist untergegangen.“ Bis zuletzt gehörte Abbé Pierre zu den beliebtesten Persönlichkeiten in Frankreich. Er war eine Art soziales Gewissen der Nation. Was war sein Geheimnis? – In dem extrem kalten Winter 1954 erfror eine obdachlose Frau mit ihrem Baby unter einer Seinebrücke in Paris. Daraufhin startete Abbé Pierre einen „Aufstand der Güte“. Er kämpfte unermüdlich für die Würde und die Rechte der Obdachlosen und Ausgeschlossenen der Gesellschaft. Er gründete die Bewegung „Emmaus“. Die ist heute weltweit aktiv und kümmert sich um Arme und Aids-Kranke, um Obdachlose und Strafentlassene. Über Jahrzehnte forderte er das Recht auf Wohnen. Dass die französische Regierung das jetzt gesetzlich verankern will, das hat Abbé Pierre gewiss noch mit Genugtuung wahrgenommen. Das Leben und Wirken dieses modernen Heiligen ist eine überzeugende Antwort auf das Wort Jesu: „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäus 25,35) Was das heißt, das macht Jesus deutlich, wenn er fortfährt: „Was ihr für eine meiner geringsten Schwestern, für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40) Abbé Pierre, ein Heiliger der modernen Welt. Und wie viele Heilige stand auch er des öfteren im Widerspruch zur offiziellen Lehrmeinung seiner Kirche, vor allem in moralischen Fragen: Er trat ein für eine liberalere Haltung bei der Empfängnisverhütung, für die gesellschaftliche Anerkennung von homosexuellen Paaren und für die Aufhebung des Zölibats Was mich bewegt, ist ein Satz aus seinem Testament: „Wenn ich allen, die um mehr Menschlichkeit bemüht sind, eine Gewissheit weitergeben soll, dann ist es die – ich kann wirklich keine andere geben: Leben heißt lieben lernen.“
(aus: Mein Testament)

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