Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Das Geklirr habe noch in den Ohren. Ich will eben noch schnell die Spülmaschine ausräumen. Aber ich passe nicht richtig auf, da fallen ein paar Tassen aus dem Küchenschrank auf die Fliesen. Der Boden ist voller Scherben. Zwei Becher aus einem blauen Keramikgeschirr, natürlich nicht die, die eh schon eine Macke hatte, sondern die anderen, die noch ganz waren. Schade drum, na ja. Aber dann das: die unscheinbare weiße Porzellantasse, aus der ich als Kind meinen Kakao getrunken habe. Sie war eines der wenigen Erinnerungsstücke, die ich mitgenommen habe, vor Jahren, als der Haushalt meiner Eltern aufgelöst wurde.

Da liegt sie nun, die Tasse. Schön war sie nicht, auch nicht wertvoll, und ich hatte sie nur noch im Gebrauch, wenn alle anderen schmutzig waren. Aber ich hätte sie nie weggeworfen. Denn in ihr war immer noch meine Kindheit, ein Teil von mir selbst. Jetzt also ein abrupter Abschied. Ein Abschied, den ich selbst nicht hätte vollziehen können, jetzt wird er einfach vollzogen, ob ich bereit bin oder nicht.

Auf dem Weg zur Arbeit denke ich: Nur eine Tasse, und so schwer fällt es mir, mich davon zu lösen und weiter zu gehen. Natürlich gibt es Abschiede im Leben, die andere Kaliber sind und mit denen man klarkommen muss. Aber auch die vielen kleinen Abschiede sind nicht ohne. Sie brauchen mehr seelische Kraft als man denkt.

Bei jedem Abschied werde ich an etwas Wichtiges erinnert. Jeder Abschied sagt mir: Geh weiter, du bist noch nicht am Ziel. Ein Leben ohne Abschied gibt es erst, wenn ich alle irdischen Wege bis zum Ende gegangen bin, erst in der anderen Welt, im Himmel, hat man früher gesagt.

Am Abend habe ich eine der Scherben nochmals aus dem Mülleimer geholt und sie kurz in der Hand gehalten. Da war alles wieder da, die Kindheit mit ihren kleinen Seligkeiten und mit ihren Ängsten. Und irgendwann hab ich gespürt: es ist gut. Es ist gut, dass alle diese Wege seit damals hinter mir liegen. Es ist gut, dass ich bis dahin geführt worden bin, wo ich heute stehe.

Der kleine Abschied hatte einen ganzen Tag gebraucht. Am Ende lag die letzte Scherbe im Müll. Als ich nach Tagen zum Container ging, um den Eimer zu leeren, war ich innerlich schon ein paar Schritte weiter.

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