Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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21NOV2006
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Wenn ich also Krankenhausseelsorgerin Patienten besuche, kommt das Gespräch immer wieder auch auf das Thema Trauer. Ich erfahre, dass jeder anders trauert. Viele möchten darüber sprechen, auch noch Jahre nach dem Tod des geliebten Menschen. Ich erlebe, wie bedeutsam es ist, sich zurück zu erinnern. Erzählen, wie das Leben war, als er oder sie noch lebte, den Faden der Erinnerung aufnehmen. Somit wird das frühere Leben mit den Verstorbenen gleichsam in die Gegenwart hereingeholt und von da aus betrachtet.
Sich erinnern ist nicht immer einfach, weil die Erfahrungen meist widersprüchlich sind. Man kann einen Menschen geliebt haben, aber auch wütend auf ihn gewesen sein und unter manchen seiner Eigenschaften gelitten haben, was ja ganz normal ist für Liebes-und Partnerschaftsbeziehungen. Man kann Glück erlebt haben und auch Enttäuschung.
Ich denke an ein Gespräch mit einer Frau. Sie war an diesem Tag sehr traurig und vermisste ihren verstorbenen Mann sehr. Sie erzählte von seiner jahrelangen Krankheit und wie sie für ihn gesorgt hat. Vor allem das letzte Jahr vor seinem Tod. Da hat sie ihn rund um die Uhr gepflegt. Ja, es sei sehr anstrengend gewesen, trotzdem habe sie es gern gemacht. Denn erst in dieser Zeit sind sie sich sehr nahe gekommen und haben mehr miteinander geredet als all die Ehejahre zuvor, als jeder seiner Arbeit nachgegangen ist, dazu Haushalt und Kinder und er abends halt immer weg: bei der Feuerwehr, im Gemeinderat, im Sportverein. So unglaublich es klingt, erst als er krank wurde, hatten sie Zeit füreinander.
Ich hatte den Eindruck, als könne diese Frau es selbst nicht verstehen, wie widersprüchlich ihre Gefühle sind. Es ging ihr wirklich nicht darum, ihren Ehemann nachträglich verändern zu wollen oder sein Leben zu bewerten, sondern darum, ehrlich hinzuschauen, wie das Leben war mit ihrem Mann.
Mir hilft der Gedanke, dass unsere Verstorbenen bei Gott mehr sind als das, was augenscheinlich ihnen und uns gelungen ist und dass sie nun vollendet und heil bei Gott leben. Deshalb glaube ich, dass es erlaubt ist, sich ein möglichst rundes und vollständiges Bild von ihnen und unserer Beziehung zu ihnen zu machen.
Dieses Bild geduldig und mutig Stück für Stück zusammenzupuzzeln – das kann hilfreich sein zum Weiterleben und macht offen für neue Möglichkeiten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=117
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