Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Sich auf eine Pilgerreise einzulassen ist ein Abenteuer. Vieles, auf das man sich als Pilger einlässt, weiß man zwar, weil man darüber gelesen hat. Aber wie es sich anfühlt, wenn es dann so ist, kann man nicht wissen. Das gilt ganz besonders für die Nächte. Selbst wenn man sich für die nächste Etappe ein Bett reserviert hat und man weiß, wie die Unterkunft heißt, weiß man eben nicht mit wem genau und mit wie vielen Menschen in einem Raum man schlafen wird. Manchmal sind es nur drei, manchmal aber auch 20. Alle sind sich fremd. Manche sagen gleich bevor sie ins Bett gehen, dass sie schnarchen oder im Schlaf sprechen. Alle benutzen die gleiche Dusche, diesselbe Toilette. Jeder hat nur wenig Platz für seinen Rucksack. Keiner hat einen Schlüssel. Die Zimmer sind einfach offen. Ich war selbst im August auf dem Jakobsweg und habe zwei Wochen Zeit gehabt, zu üben: mit fremden Menschen mein Leben zu teilen, auch nachts; zu hoffen, dass mir nichts geklaut wird und dass ich einschlafen kann; offen zu sein und Menschen anzusprechen, die ich noch nie gesehen habe und vielleicht auch nie wieder sehe; zu vertrauen, dass meine Schuhe am nächsten Morgen noch dort stehen, wo alle sie abstellen müssen. Ich bin nicht enttäuscht worden. Kann gut sein, dass andere Pilger auch anderes erlebt haben. Für mich hat sich die Übungszeit gelohnt. Mit ist nichts geklaut worden. Um 22 Uhr spätestens war es ruhig damit die schlafen konnten, die das wollten. Rücksichtsvoll, leise und ohne Licht haben alle Frühaufsteher morgens ihren Rucksack gepackt und sind lautlos verschwunden. Schlangen vor der Dusche oder den Toiletten gabs auch nicht. Schon das hat mich beeindruckt.  Mehr noch allerdings wie offen und ehrlich Fremde aufeinander zugehen können. Manchmal war auch ein kurzes Gespräch so intensiv und tief, wie es in der Anonymität des normalen Alltags völlig undenkbar ist. Viele Menschen sind mir so nahe gekommen, dass ich ihr Gesicht, ihren Namen und ihre Geschichte nie mehr vergessen werde. Das alles habe ich mir  überhaupt nicht vorgestellt als ich aufgebrochen bin. Ich habe mich jeden Tag darüber wirklich gefreut und manchmal war ich einfach glücklich. Gemeinschaft mit Fremden, ehrlich, rücksichtsvoll, respektvoll, im Vertrauen - im Alltag ein Traum?

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