Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Im Wartezimmer beim Arzt blättere ich sie immer durch - die Zeitungen, die mir die Welt der Prominenten näher bringen. Dabei interessieren mich Promi-Empfänge oder Berichte über Designermode nur mäßig. Aber die Schicksalsge­schichten der Prominenten lese ich gern. Und damit stehe ich anscheinend nicht allein da. Denn laut einer Umfrage findet es jeder zweite Deutsche gut, wenn Stars über ihre Krankheiten sprechen.[1] Vielleicht finden wir es irgendwie tröstlich, dass Prominente auch nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Aber merkwürdig ist es doch auch - denn das Leid von Menschen, die wir kennen, finden wir anscheinend nicht tröstlich.
Die Umfrage hat nämlich weiter danach gefragt, wie gerne wir uns denn die Krankheiten von „normalen Menschen" anhören. Und da hat nur noch jeder Achte von sich sagen können, dass er gerne daran Anteil nimmt. Seltsam, oder? Können wir vielleicht eher Anteil nehmen, wenn die Schicksale uns fern sind? Wird Leid für uns vielleicht beängstigender, wenn uns der Mensch nah ist, der davon betroffen ist? Eine Bekannte, die Krebs hat, hat mir neulich erzählt, dass sie fast keine Besuche mehr ertragen könnte. Denn entweder wären ihre Bekannten wegen ihres Schicksals so am Boden zerstört, dass sie die Besucher trösten müsse. Oder sie redeten auf sie ein, dass alles bestimmt nicht so schlimm kommen würde wie die Ärzte sagen. Einfach nur da sein, die Krankheit mit aushalten - das könnten die Wenigsten. Aber ich glaube: Nur das würde den Kranken helfen. Und vielleicht ist es gar nicht so schwer wie wir fürchten. Denn die Erfahrung meiner Bekannten hat mir gezeigt: ich brauche gar nicht nach tröstenden Worten zu suchen, wenn mir kein Trost einfällt. Ich darf sogar sagen, wie schlimm ich ihre Krankheit finde und welche Angst sie mir macht. Ich darf ganz offen sein, aber eines sollte ich nicht: den Kranken und ihren Krankheiten aus dem Weg gehen. Und wenn man selbst krank ist oder wenn man Probleme hat - vielleicht gerade mit der Krankheit eines nahen Menschen? Dann ist es vielleicht gut, zu wissen, dass es Orte gibt, wo man Zuhörer finden kann: Bei Pfarrern und Pfarrerin­nen in den Gemeinden, bei Seelsorgern in den Krankenhäusern oder in Städten in Citykirchen oder Orten des Zuhörens. Dort können Sie Menschen finden, die für Sie da sind - zum Zuhören, zum Reden oder einfach zum Aushalten. Diese Menschen sind gerne bereit, Leid mit zu tragen. Und für sie ist Ihre Schicksalsge­schichte mit Sicherheit wichtiger als jede Schicksalsgeschichte eines Prominenten.


[1] Vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse unter:

www.presseportal.de/pm/52678/2044952/krankengeschichten-nur-von-promis-umfrage-von-normalsterblichen-wollen-viele-keine-leidensberichte.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11430
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