Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Ich habe Gott verloren", hat sie gesagt - die Frau, die mir im Gespräch gegenüber sitzt. „Ich habe immer an Gott geglaubt und ihm jeden Tag für mein Leben gedankt - aber jetzt kann ich das nicht mehr." Und dann erzählt sie mir von ihrem Schicksal. Dass ihr Mann sich von ihr getrennt hat. Von den Sorgerecht-Streitigkeiten und von den Problemen mit ihrem Sohn, der ihr die Schuld daran gibt, dass sein Papa weg ist. „Sicher gab es auch mal Probleme. Aber unterm Strich ging es uns gut und ich war zufrieden und dankbar. Aber jetzt kann ich nicht mehr danken. Jetzt merke ich Gott nicht mehr - ich glaube, ich hab' ihn verloren."Verzweifelt über ihr Schicksal hat sie mir gegenüber gesessen. Und mich hat besonders angerührt, dass sie fast noch mehr darüber ver­zwei­felt war, dass ihr Gott aus dem Blick geraten ist. Was sollte ich ihr sagen? Dass ich davon überzeugt bin, dass Gott für sie da ist, gerade jetzt in ihrer Verzweiflung? Dass ich glaube, dass er ihr die Kraft geben wird, alles durchzustehen? Alles richtig, alles wahr - aber ob es ihr auch helfen würde?
Dann ging mir ein Wort aus einem biblischen Psalm durch den Kopf: „Abends und morgens und mittags will ich klagen", betet da ein Mensch (Ps 55,17): „Und Gott wird mich hören". Und ich habe der Frau geantwortet: „Ich glaube nicht, dass Sie Gott verloren haben. Es ist nur im Moment für Sie nicht dran, dankbar zu sein. Im Moment ist für Sie dran, zu Gott zu klagen, für das, was sie gerade durchstehen müssen. Und ich glaube sicher: für Gott ist das in Ordnung." Und dann habe ich ihr erzählt, dass es in der Bibel viele Gebete von Menschen gibt. Gebete voller Dankbarkeit, voller Vertrauen - und Gebete, mit denen Menschen zu Gott klagen. Und ich habe ihr gesagt, dass ich davon überzeugt bin, dass diese Menschen Gott nicht verloren haben - im Gegenteil - sie sind ganz nah bei ihm, weil sie ihn beim Wort nehmen. In der Bibel kann man immer wieder lesen, wie Gott verspricht, dass er uns zur Seite stehen, uns beschützen und tragen will - auch durch Zeiten der Verzweiflung. Wenn jemand zu Gott klagt, dann ist er dran an Gott, denn er nimmt ihn ernst - auch in seinen Versprechen. Am Ende unseres Gesprächs, fast schon in der Tür, hat sich die Frau noch einmal umgedreht: „Was meinen Sie, werde ich irgendwann wieder dankbar sein können?" „Ich glaube schon", habe ich ihr geantwortet, „aber setzen Sie sich nicht unter Druck. Auch wenn Sie klagen sind sie ganz nah bei Gott. Gott genügt das, dann kann es Ihnen doch vorerst auch reichen, oder?"

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