Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Da sitzt sie. Mitten in der Fußgängerzone. Mit dem Rücken lehnt sie sich leicht an die Hauswand. Sie schaut auf die Füße der Vorbeilaufenden. Obwohl ich ihr Gesicht kaum erkennen kann, schätze ich sie auf um die fünfzig. Vor ihr liegt ein altes Pappschild - die Sonne hat die Schrift schon ein wenig ausgebleicht, aber es lässt sich noch lesen. Drei Worte stehen darauf: Ich habe Hunger! 
Bestimmt bin ich schon oft an ihr vorbeigegangen und war froh, nicht angesprochen zu werden. Es ist anstrengend, wenn mich jemand um Geld bittet. Wenn ich mit Armut konfrontiert werde. Aber heute kann ich nicht so einfach weitergehen. Das Schild macht mich betroffen. „Ich habe Hunger." Ich werfe ein Geldstück in die kleine Schachtel, die vor der Frau steht. Eigentlich müsste ich jetzt erleichtert sein. Doch die Worte auf dem Schild gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. „Ich habe Hunger!" Hunger!  Wenn ich ehrlich bin - das habe ich selten. Eher Lust und Appetit. Aber ich kenne auch diesen anderen Hunger. Hunger nach dem, was ich wirklich zum Leben brauche: Respekt, Anerkennung, Zuneigung. Das sind große Worte - und doch stehen sie für viele kleine, aber wichtige Gesten in meinem Leben: das Kind aus der Nachbarschaft, das mir beim Einzug in die neue Wohnung freundlich „hallo" gesagt hat oder das herzliche „Danke" einer Kollegin für meine getane Arbeit. Diese Aufmerksamkeit kann ich mir nicht selbst geben. Dazu brauche ich andere Menschen. Und wie schnell passiert es, dass ich selbst jemanden übersehe, weil ich mit meinen Gedanken schon woanders bin. Der heilige Benedikt von Nursia, Ordensgründer der Benediktiner, schreibt in der Lebensregel für seine Mitbrüder: „Ein freundliches Wort geht über die beste Gabe" (Kap. 31, 14) Damit schließt er tatkräftige Hilfe nicht aus! Auch er weiß, wie nötig sie ist. Aber sie alleine genügt nicht. Wir Menschen brauchen Zuwendung. Ohne sie können wir nicht leben. Und was mich wirklich satt macht, daran hat mich die Frau auf der Straße erinnert.

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