SWR4 Sonntagsgedanken
SWR4 Sonntagsgedanken
Ein freundlicher Mensch schenkte mir in diesem Sommer zwei Freikarten für die Wagner-Festspiele in Bayreuth. Ich fuhr mit dem Zug hin und erlebte unterwegs sehr unterschiedliche Fahrgäste. Da war ein kräftiger junger Mann, der unentwegt vor sich hin starrte. Einmal griff er nach der Trinkflasche in seinem Rucksack, dann blieb er wieder regungslos sitzen, ohne jeden Blick für seine Umgebung. War er geistig stumpf, traurig oder einfach nur müde? Erst als der Schaffner kam und mit ihm redete, erkannte ich: Dieser Mann war blind. Seine Unbeweglichkeit war äußerste Konzentration, aufmerksam lauschte er auf Geräusche und Stimmen. Längst vor mir spürte er, dass der Zug bald halten würde, stand ohne Hast auf, ergriff Rucksack und Blindenstock und bewegte sich vorsichtig, aber sicher zur Ausgangstür. Betroffen und etwas beschämt sah ich ihm nach. Dieser Blinde hatte nur eine kurze Wegstrecke mit mir geteilt und mir doch etwas geschenkt.
Gelassenheit war von ihm ausgegangen. Offenbar ruhte er in sich wie jemand, der sich und seine Situation angenommen hat. Da wurde mir wieder bewusst: Nichts im Leben ist selbstverständlich. Sehen, hören, gehen können, das alles ist Geschenk. Und es gehört zur Größe des Menschen, dass er fähig ist, auch unter Einschränkungen ein erfülltes Leben zu führen, ja, sogar im Leiden Sinn zu finden. Im nächsten Zug setzte sich eine gut gekleidete Dame um die 50 neben mich. „Was lesen Sie da?", fragte sie noch halb im Stehen und nickte gönnerhaft beim Anblick des Buchtitels. Dann machte sie sich ungeniert breit: Ich spürte ihren mächtigen Unterarm auf der Seitenlehne und hatte plötzlich ein Stück der Zeitung vor Augen, die sie weit auseinander gefaltet hatte. Als wir uns Bayreuth näherten, unterhielt sie sich kurz und lautstark mit ihrem entfernt sitzenden Partner , packte geräuschvoll ihre Sachen zusammen und stand auf. Eilig heftete sie sich hinter ihren Reisegefährten, der mit seinem großen Flugkoffer bereits den Mittelgang versperrt hatte und von der Seite her niemanden hereinließ. Als der Zug hielt, erreichten beide als erste den Bahnsteig.
„Ziemlich rücksichtslos!" , brummte jemand neben mir. Ich nickte und dachte an den Blinden, der so leise, behutsam und gesammelt sein Reiseziel erreicht hatte. Mir fiel aber auch die junge Mutter ein, die ich am Vortag hatte reden hören: „Kind, das Wichtigste ist, dass du lernst dich durchzusetzen. Später schenkt dir auch keiner was!" Wirklich?
Ich war gespannt, welche Botschaften ich vom „Grünen Festspielhügel" in Bayreuth erhalten würde.
(Musik)
Teil 2: Botschaft von der Liebe
Im Sommer dieses Jahres hatte ich Gelegenheit, die Oper „Parsifal" im Bayreuth mitzuerleben. Sie handelt von einem jungen Mann, der zwar ordentlich „draufhauen", kämpfen und schießen kann, im Umgang mit anderen aber ziemlich versagt. Keine Frage, kein teilnehmendes Wort kommt über seine Lippen, als er bei dem schwer kranken Gralskönig zu Gast ist. So wird er aus dessen heiliger Welt wieder verstoßen und braucht viele Jahre, bis er auch das andere gelernt hat: den Sinn für den Mitmenschen und seine Bedürfnisse, sich einfühlen und mitempfinden. Bei der zweiten Begegnung mit dem König ist Parsifal von Mitleid bewegt, agiert nun von innen heraus und kann den Kranken heilen. Das Stück endet als Utopie: Dieser Parsifal, der seine Ichsucht überwunden und zur reinen Nächstenliebe gefunden hat, wird der neue König. Macht und Liebe sind versöhnt.
Nur die Liebe erlöst - das ist auch d i e zentrale christliche Botschaft. Im Gleichnis Jesu vom großen Weltgericht (Matthäus 25, 31-46) werden die Menschen nicht danach beurteilt, welcher Konfession, Religion oder Partei sie angehört - ja, nicht einmal, ob sie an Gott geglaubt haben. Was allein zählt , ist die Liebe zum Nächsten. Der Weltenrichter im Gleichnis hat sich mit den Leidenden dieser Welt identifiziert und deshalb lautet sein Richterspruch: „Kommt her, nehmt das Reich in Besitz, ...Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben ...Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen ..."
Umgekehrt gilt: Nicht dadurch kann jemand sein Leben verfehlen, dass er dieser oder jener Religion anhängt oder gar keiner, auch nicht dadurch, dass er Schwächen und Fehler hat. Die eigentliche Sünde ist die Ichsucht, die Gleichgültigkeit und Herzenskälte gegenüber dem Nächsten. So sagt es der Richter: „Ich war hungrig und ihr habt mir nicht zu essen gegeben...Ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht." - An einem Vormittag saß ich im schönen Bayreuther Operncafé und unterhielt mich über die Inszenierung des „Parsifal". Plötzlich Unruhe am Nebentisch, aufgeregte Stimmen, jemand läuft zur Rezeption." Das Mädchen hat einen epileptischen Anfall!", flüstert jemand. Das Bild brannte sich mir ein: ein junges Menschenkind am Boden, erschrockene Helfer, die sich herabbeugen, das alles in einer schönen, hoch kultivierten Umgebung.
Nein, kein Widerspruch, sondern stimmig: Wir Menschen leisten Großes in Wissenschaft und Technik und schaffen Kunstwerke von höchstem Rang. Doch immer bleiben wir Geschöpfe: immer gefährdet und hilfsbedürftig, sterblich und voll Hunger nach Liebe.
Parsifal lernte das Mitleid, die Liebe zum Nächsten, und fand so den Weg zur Erlösung. Wer diese Botschaft für sich annimmt, steht aus der Sicht des Evangeliums - ob mit oder ohne Glauben - auf der „richtigen Seite". Denn dann ist er, - so sagte es Jesus - „ nicht weit vom Reiche Gottes" (Markus 12, 34).