Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Du hast Schuld! Du bist verantwortlich für das, was passiert ist" Einem anderen das ins Gesicht zu sagen, das braucht Mut. Erst recht, wenn es der Chef ist oder der Nachbar. Das war in biblischer Zeit auch nicht anders. Damals sollte der Prophet Natan zum König gehen und ihm sagen: „Du hast ein Verbrechen, einen Mord begangen."
Natan musste all seinen Mut zusammennehmen und auch noch einen Trick anwenden, damit er das dem König sagen konnte - ohne selbst umgebracht zu werden.  Und er hat es gemacht. „Das ist Zivilcourage" habe ich gedacht, als ich die Geschichte gelesen habe. Jemand geht zu einem übermächtigen König und sagt ihm: „Das war nicht richtig!" Tja, und dann ist mir die Situation in der Bäckerei wieder eingefallen... Vor der Bäckerei liegt ein großer Parkplatz. Ich sehe schon von Weitem, dass sich drei Menschen der Tür nähern. Eine ältere Dame, dann ein etwa 8jähriger Junge und schließlich eine jüngere Frau. Die drei gehen in den Laden. Dann komme auch ich dort an. Die ältere Dame bestellt sehr aufwändig Brot, Brötchen und Kuchen. Der Junge zählt immer wieder sein Geld nach und schaut auf die Brezeln. Die jüngere Frau schaut auf die Uhr, guckt ungeduldig. Aber all das bekomme ich selbst nur so nebenbei mit, weil ich an ein Telefonat denke - und dass ich das Kartoffelbrot nicht vergessen darf. Endlich ist die ältere Dame fertig. Und nun bestellt die jüngere Frau: „Vier Brezeln, zwei Berliner und noch einen halben Hefezopf." Der Junge? Der wurde einfach übergangen! Die junge Frau hat einfach über ihn weg bestellt! Die Verkäuferin hat nicht reagiert. Ich aber auch nicht! Da geschieht ein Unrecht. Kein großes Unrecht. Es geht nicht um einen mordenden König. Aber es ist Unrecht an dem Kind. Bis ich geschaltet habe, war die Situation vorbei. Das ist eine relativ einfache Übung in Zivilcourage, wenn man sagt: „Moment, der Junge wäre jetzt dran." Aber man muss es zuerst einmal merken. Ich war abgelenkt. Das geht sicher auch anderen so. Es liegt manchmal also gar nicht daran, dass einer nicht mutig genug wäre. Vor dem Mut kommt das Merken. Dem Propheten Natan hat damals Gott gesagt, dass da ein Unrecht geschieht und dass er sich einmischen soll. Mir und Ihnen hat er Augen gegeben, damit wir sehen und merken, was vorgeht. Wir sollten sie gebrauchen - damit wir uns einmischen können, wenn es nötig ist. Denn: „Vor dem Mut kommt das Merken".

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