Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Es bleibt zwischen zwei Menschen, sie seien noch so eng verbunden, immer ein Abgrund offen, den nur die Liebe überbrücken kann" - der Dichter Hermann Hesse (1877 - 1962) hat das gesagt. Was für ein ehrlicher Satz! Je länger ich darüber nachdenke, um so deutlicher erkenne ich, dass das stimmt. Und dass es - so nehme ich an - für jede Art von Beziehung gilt. Jeder Mensch ist einmalig und einzigartig. Er hat aber auch seine persönliche Lebensgeschichte und ist geprägt von seiner familiären und sozialen Herkunft, von seiner Erziehung, von seinen Veranlagungen und seelischen Befindlichkeiten. Einer meiner besten Freunde ist Grieche, ich bin bodenständiger Schwabe. Was für unterschiedliche Mentalitäten. Das alles müssen noch keine „Abgründe" ergeben, von denen Hermann Hesse spricht. Wären da nicht noch ganz andere Störungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich gehe auf Sicherheitsabstand aus Angst, mein Gegenüber könnte zum Konkurrenten, zum Rivalen, gar zum Feind werden. Da tun sich - oft unbewusst  - tiefe Abgründe auf: Eifersucht, Neid, innere Verletzungen. Und das alles - sagt Hermann Hesse - „kann nur die Liebe überwinden". Und wie kann sie das? - Gewiss nicht einfach so, dass man sich voll von Gemütswallungen um den Hals fällt. Liebe, die die Abgründe überbrücken kann, ist der Respekt vor dem anderen. Dazu gehört auch, was mein Gegenüber fühlt, welche Erfahrungen sie/ihn geprägt haben, welche Biographie sie/er hat. Respekt haben heißt auch, dass der andere nicht sein muss, wie ich ihn haben möchte. Sie/Er darf anders sein als ich. Haben zwei in ihrer Beziehung Respekt voreinander, dann kann die Liebe Abgründe überbrücken. Dann sind zwei füreinander da, ohne einander zu bevormunden, ohne übereinander zu herrschen. Dann sind zwei füreinander da, ohne sich voneinander abhängig zu machen, ohne einander ständig kontrollieren zu müssen und besitzen zu wollen. Mit einem solchen Respekt voreinander kann Liebe Abgründe überbrücken, Vertrauen schenken und Freude machen.

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